Die Gelehrtentraditionen der im äußersten Südwesten des heutigen Algerien gelegenen Twāt-Oasen[1] lassen sich bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen. Ab dem 15. Jahrhundert wird die Region zu einer Drehscheibe zwischen dem arabisch-berberischen Nordafrika und dem westafrikanischen Bilād al-Sūdān und entwickelt sich gleichzeitig zu einem bedeutenden Zentrum islamischer Gelehrsamkeit in den westlichen Saharagebieten. Zwischen den nördlich gelegenen Oasen des Gourara und der Ebene des Tidikelt, welche nur noch die Wüste Tanezruft vom Mali und dem legendären Timbuktu trennt, entwickelt sich in den befestigten Oasendörfern (qsūr; Sg. qasr) der Region ein dichtes Netzwerk von religiösen Zentren (zawiya ; Pl. zawāya) und Koranschulen, bilden sich Gelehrtenzirkel, die es sich zur Aufgabe machen, ein auf den schriftlichen Quellen des Islam beruhendes Normensystem zu verbreiten und mit den lokalen Gegebenheiten in Einklang zu bringen [2]. Wie kam es nun, dass eine Region, die den klassischen arabischen Reisenden und Geographen des Mittelalters noch weitestgehend unbekannt war, in der Neuzeit zu solch überregionaler Bedeutung gelangte? Auch wenn wir beim jetzigen Stand unserer Forschung noch keine wirklichen Ergebnissen zu dieser Fragestellung vorstellen können, ergeben sich dennoch bereits aus den bis jetzt gesichteten Quellen einige wichtige Elemente.
Die historische Entwicklung ist vor allem von der Nähe zu Marokko geprägt. Die Region sieht Fes als geistige Hauptstadt, entsendet regelmäßig ihre jungen Studenten, ihr Wissen an der renommierten Qarawiyin zu vervollkommnen. Eine solche Affinität spiegelt auch politischen Realitäten wider: Ende des 16. Jahrhunderts erobern die Saadier (1511-1660) auf ihrem Vormarsch gen Timbuktu die Twāt-Oasen und etablieren so die formelle Oberhoheit des Scherifenreichs, welche von der Nachfolgerdynastie der Alawiten (ab 1661) noch verstärkt bis zur Kolonialzeit bestehen bleibt und bis heute für politischen Zündstoff zwischen Algerien und Marokko sorgt. Auf der anderen Seite bestehen jedoch auch rege Kontakte zum zentralen Maghreb (das heutige nördliche Algerien) und seinen kulturellen Zentren Tlemcen, Bougie und Algier, mit Timbuktu und nicht zuletzt mit den maurischen Handelsstädten, Shinqit, Walata und Wadan, die sich etwa zur gleichen Zeit anschicken, aus dem Schatten der Geschichte zu treten [3]. Parallel hierzu entstehen in der Region umfangreiche Privatbibliotheken, „Schränke des Wissen“ (khazā’in, Sg. khizāna), wie die Bewohner sie nennen, die bis heute einen enormen, noch kaum erforschten Bestand an Handschriften bergen, darunter sogar einige hebräische und aramäische Manuskripte, die sich auf welche Weise auch immer in die Region verirrt haben [4].
Die Anfänge im Spätmittelalter liegen im Dunkel. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen kann man sich ihnen lediglich anhand der mündlichen Überlieferung und späterer schriftlicher Quellen aus dem 17. Jahrhundert nähern, wodurch chronologisch genaue Aussagen faktisch unmöglich werden. Das kollektive Gedächtnis weiß sich jedoch an eine Einwanderungswelle von Gelehrten und Heiligen aus Marokko und dem zentralen Maghreb zu erinnern, die zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert anzusiedeln ist, in jener Zeit also, in der sich Nordafrika in einer Phase tiefgreifender sozialer und politischer Umwälzungen befand: der Druck der spanischen und portugiesischen Reconquista auf die Küsten, der Vormarsch arabischer Stammesverbände der Banu Hilal und Banu Ma’qil, welche die Arabisierung der ländlichen Gebiete weiter vorantreibt; die weitläufige Verbreitung des Scharifentums und eines pietistisch geprägten, auf die Figur des Propheten fokussierten Sufismus, mit all seinen politischen und sozialen Konsequenzen; schließlich die Eroberung weiter Teile des Maghreb durch die Osmanen. Kurzum, das 15. und 16. Jahrhundert skizziert die bis zur Kolonialzeit bestehen bleibenden politischen und sozialen Konturen Nordafrikas und lässt so historisch gesehen den Gründungsmoment der Gelehrsamkeit im Twāt zusammenfallen mit der Transitionsphase des mittelalterlichen Maghreb in die Neuzeit [5].
In den Oasen der Region angekommen, schließen die frommen Einwanderer Bündnisse und Klientelverträge mit den teilweise noch berbersprachigen Einwohnern, sowie den umliegenden Beduinenstämmen und gründen religiöse Zentren (zawiya; Pl. zawāya), in denen einerseits die Grundlagen der muslimischen Religion gelehrt und verbreitet werden, andererseits Reisenden Aufnahme und Gastfreundschaft gewährt wird. Es sei hier am Rande bemerkt, dass all dies zu einer Zeit geschieht, in der sich die Transsahararouten weiter nach Westen verlagern und somit der Twāt als Etappenziel deutlich an Bedeutung gewinnt.
In Tamentīt, der alten Hauptstadt des Twāt, lässt sich zum Beispiel um 909/1503-04 der Marokkaner Maymūn b. 'Amrū b. Muhammad b. 'Umar al-Bāzī nieder. Nicht zuletzt durch das Prestige eines langen Studienaufenthaltes in Fes wird al-Bāzī zum Gründer einer mächtigen Gelehrtendynastie. Während der gesamten Neuzeit sollte das Haus (bayt) der Bakriden eine wichtige Rolle im religiösen Leben der Stadt spielen, indem es ihm gelang, das Monopol auf das Amt des Kadi von Tamentīt mit der Leitung einer renommierten zawiya gewinnbringend zu verbinden. In diesem Zusammenhang muss hinzugefügt werden, dass bis heute das traditionelle Gelehrtenmilieu im Twāt stark von einzelnen auf die befestigten Dörfer der Region verteilten Gelehrtenlinien dominiert wird, in denen Wissen und baraka von Generation zu Generation vererbt werden und in denen die Familientradition sorgsam die Erinnerung an eine Gründerfigur aus dem 15./16. Jahrhundert am Leben hält.
Der berühmteste jener frommen Einwanderer ist jedoch ohne Frage der aus Tlemcen stammende Abū Zakarīyyā Yahya b. Mūsa al-Maghīlī (st. 883/1478-79), dessen Grab sich im Dorf Bou Ali in der Nähe von Zaouiet Kounta auf der Route nach Reggane befindet. Das Echo der von ihm losgetretenen erbitterten Polemik über den Rechtsstatus der jüdischen Bevölkerung Tamentīts – eine Polemik, die letztendlich zur Zerstörung der Synagoge der Stadt und zum Niedergang dieser wohlhabenden Gemeinde führen sollte, deren Wurzeln wohl bis in die Antike zurückreichen [6] – ließe sich noch im fernen Fes vernehmen, wo sie Eintritt in den Mi’yar des Wansharīsī (st. 914/1508) fand [7].
Auch wenn der Twāt durch die Polemik des al-Maghīlī Eingang in die Annalen des malikitischen Rechts fand, so war doch die Konstituierung eines regionalen Netzwerkes renommierter Gelehrter ein langwieriger Prozess, der sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte. Erst gegen Mitte des 17. Jahrhunderts und vor allem ab dem 18. Jahrhundert entwickelte sich beispielsweise eine lokale Gelehrtenliteratur, dank der sich das intellektuelle Profil der einzelnen Ulema genauer rekonstruieren lässt und die geistigen Traditionen des Twāt im Bezug zum Rest des Maghreb an Kontur gewinnen. Diese hauptsächlich in den befestigten Dörfern der Region entstandene Literatur umfasst eine Vielzahl an Reiseberichten, Fatwa-Sammlungen, Werkkommentaren (sharh; Pl. shurūh), biographischen Lexika, linguistischen und grammatikalischen Abhandlungen, genealogischen Studien und Hagiographien. Zumindest formell entspricht sie also der Wissensproduktion der großen Städte des Nordens oder Timbuktus und widerlegt so die These Gellners der Heterodoxie der von der Schriftkultur angeblich ausgeschlossenen ländlichen Gebiete Nordafrikas [8]. Für unsere Forschung bleibt jedoch die Frage bestehen, ob diese schriftliche Tradition einem urbanen Ethos folgt, wie Cornell für Teile des mittelalterlichen Marokkos argumentiert, oder ob die allgemein angenommene These des Primats des Urbanen in der Artikulation islamischer Gelehrsamkeit nicht doch zumindest für die Sahara-Region überdacht werden muss [9].
Zur gleichen Zeit gewinnen die religiösen Zentren der Region ebenfalls an Profil und stärken ihren Einfluss in der Bevölkerung. Während des 17. Jahrhunderts entwickeln sich in der Tat einige zawiya-s zu mächtigen traditionellen Lehranstalten, aus denen eine ganze Generation lokaler Ulema hervorgeht und die so die institutionelle Basis eines dicht gewordenen regionalen Netzwerks islamischer Gelehrsamkeit bilden. Diese zawiya-s unterhalten des Weiteren enge Kontakte nach Fes, sodass mehrere aus dem Twāt stammende Ulema sich damit rühmen konnten, an der renommierten Qarawiyin gelehrt zu haben. Die wiederholte Besetzung der Twāt-Oasen durch die Armeen der Saadier und Alawiten mögen hier sicherlich dazu beigetragen haben, dass sich die Region eher nach Westen hin als zum osmanischen Osten orientiert, von der jährlichen Pilgerkarawane über Kairo nach Mekka einmal abgesehen.
Zu den einflussreichsten dieser Zentren gehört die Zawiya al-Tintilāniyya in der Region von Timmi, aus der unter anderem ‘Abd al-Rahmān al-Tintilānī (st. 1189/1775) stammt, einer der wohl bedeutendsten lokalen Gelehrten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Als Spross einer ursprünglich aus Marokko stammenden Gelehrtenfamilie, die sich im 17. Jahrhundert in der Region niedergelassen hatte, in der zawiya von Tintilan geboren, ist ‘Abd al-Rahmān al-Tintilānī Autor eines umfangreichen Werkes, welches sowohl Schriften zur Grammatik der arabischen Sprache und zur Astronomie (‘ilm al-falak) als auch eine Fatwa-Sammlung und einige autobiographische Notizen umfasst. Ein weiteres wichtiges Zentrum ist die Zawiya al-Raqqādiyya in der Nähe des heutigen Zaouiet Kounta, die von Ahmad al-Raqqād b. Muhammad (m. 1016?/1607?), einem zum Stamm der Kunta gehörenden Einwanderer aus dem marokkanischen Wādi Noun, gegründet wurde. Zu erwähnen ist ebenfalls 'Abd al-Rahmān b. Ibrāhīm al-Jantūrī (m. 1160/1747), der vom heimatlichen Dorf Jantūr im berbersprachigen Gourara-Gebiet aus über die gesamte Region hinaus wirkte und unter dessen Namen eine umfangreiche Nawāzil-Sammlung verfasst wurde. Zu diesen großen Institutionen, in denen fast das gesamte Curriculum der traditionellen islamischen Wissenschaften gelehrt wurde, gesellt sich noch ein ganzes Heer einfacher Koranschulen und kleinerer zawiya-s, welche oftmals von ehemaligen Schülern der berühmten Gelehrten der Region gegründet wurden.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kumuliert die lokale Wissensproduktion in der Zusammenstellung dreier äußerst umfangreicher Fatwa-Sammlungen: die Ghuniya des Muhammad b. ‘Abd al-Rahmān al-Hajj al-Balbālī (st. 1244/1828); die Nawāzil des Muhammad al-Zajlāwī (st. 1212/1797) und schließlich die Nawāzil des obengenannten ‘Abd al-Rahmān al-Jantūrī. Wir finden in diesen Sammlungen einerseits die Entscheidungen, Positionen und Lehrmeinungen der unterschiedlichen Rechtsgelehrten der Region, von denen einige bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen, andererseits werden diese lokalen Traditionen systematisch mit Zitaten aus Werken des traditionellen Curriculums der nordafrikanischen Malikiyya in der Neuzeit wie beispielweise die Mukhtasar des Khalil (776 ?/1375 ?) oder die Nawāzil Ibn Rushd des Älteren (st. 520/1126) unterfüttert und zeugen so vom regen Austausch mit urbanen Gelehrtenzentren wie Fes, Kairo oder Timbuktu. Im Gegensatz zu den von Larbi Mezzine editierten juristischen Texten des benachbarten marokkanischen Tafilalt handelt es sich also nicht um bloße Transkriptionen regionaler gewohnheitsrechtlicher Regelungen, sondern vielmehr um innerhalb des islamischen Rechts anzusiedelnde Jurisprudenz-Sammlungen, die sich in Struktur und Aufbau an klassischen Modellen wie dem Mi’yar orientieren [10]. Auch wenn sich an vielen Stellen Lokalismen finden, das Gewohnheitsrecht und lokale Gebräuche immer wieder Gegenstand der Debatte sind, handelt es nichtsdestotrotz um Werke des fiqh, in der Hochsprache verfasst und einem in dieser Zeit überall im Maghreb zum sine qua non erhobenen Klassizismus verpflichtet, die konkret davon zeugen, wie die Vorgaben eines sakralen Normensystems lokal verstanden und angewandt wurden.
Durch das sich gegenseitige Durchdringen einer fast schon intimen Nähe zum Lokalen, zum Alltäglichen, zum Konkreten und eines theorisierenden Willens zur Abstraktion, der in jedem Moment die Brücke zur Norm der Rechtsschule, des madhhab, aufrecht erhalten möchte, entsteht eine juristische Literatur, die gleichzeitig schriftliche Fixierung lokaler juristischer Praxis, Ausdruck kollektiver Identität einer sozialen Gruppe und erudierte Reflexion im Rahmen einer Rechtstradition ist, als deren Erbe und Vertreter man sich versteht. Es scheint uns aus diesem Grunde angebracht, mit der Hypothese abzuschließen, dass die Zusammenstellung dieser Fallsammlungen ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am Ende eines langwierigen Prozesses steht, der im Spätmittelalter begann und schließlich zum Entstehen einer blühenden Gelehrtenkultur in den Oasen des Twāt geführt hat.
[1] Vor der Kolonialzeit wurde das Oasen-Dreieck Tidikelt-Touat-Gourara als ein einziger in sich geschlossener geographischer Raum betrachtet, der den Namen Twāt trug. Die Benutzung des Begriffs Twāt bezeichnet also im Folgenden nicht nur den heutigen Touat sondern die Gesamtheit der drei Oasengruppen.
[2] Zur allgemeinen Geschichte der Region siehe MARTIN (1908; 1923), BELLIL (2000) und HUTIYYA (2007).
[3] Cf. OSSWALD, Rainer, Die Handelsstädte der Westsahara: die Entwicklung der arabisch-maurischen Kultur von Šinqit, Wadan, Tisit und Walata, Berlin, Verlag von Dietrich Reimer, 1986.
[4] Cf. BOUTERFA, Saïd, Les manuscrits du Touat: le sud algérien, Alger, Ed. Barzakh, 2005.
[5] Cf. BELLIL, Rachid, Les oasis du Gourara (Sahara algérien), Paris, Louvain, Ed. Peeters, 2000, B. 1, S. 145-258 und BA'UTHMĀN, 'Abd al-Rahmān, Fahrasa 'Abd al-Raḥmān al-Tintilānī al-Tuwātī, Magisterarbeit, Universität Béchar, 2009, S. 9-12.
[6] Cf. OLIEL, Jacob, Les juifs au Sahara: le Touat au Moyen âge,Paris, Cnrs Ed., 1994 und HUNWICK, John O., « Al-Mahîlî and the jews of Tuwât: the demise of a community» in Studia Islamica, Paris, Maisonneuve et Larose, 1985, n° 61.
[7] Cf. AL-WANSHARĪSĪ, Ahmad b. Yahya, al-Mi’yar al-mughrib ‘an fatāwī Ifrīqiya wa’l-Andalus wa’l-Maghrib, Fes, 1897-98, 12 Bände, B. 2, pp. 170-202.
[8] Cf. GELLNER, Ernest, Saints of the Atlas, London, Weidenfeld and Nicolson, 1969.
[9] Cf. CORNELL, Vincent, The realm of the saint: power and authority in Moroccan Sufism, Austin, University of Texas Press, 1998.
[10] MEZZINE, Larbi, Le Tafilalt : contribution à l’histoire du Maroc aux XVIIe et XVIIIe siècles, Rabat, Université Mahomed V, 1987.