Es gibt kaum noch Lebensbereiche, die nicht in irgendeiner Weise vom digitalen Wandel erfasst worden sind. Smartphones sind allgegenwärtig, Einkäufe werden zunehmend digital getätigt, zahlreiche Dienstleistungen vom Geldabheben über die Reiseplanung bis zur Steuererklärung erfolgen vermehrt digital. Die Geisteswissenschaften nehmen sich dieses Wandels bisher eher zögerlich an, vor allem im Bereich des digitalen Publizierens. Wir haben uns zuletzt in mehreren Beiträgen - in einer Podiumsdiskussion über Open Access, einer Präsentation verschiedener digitaler Publikationsformen sowie mit einer neuen L.I.S.A.Publikation - des Themas "Digitales Publizieren" intensiver angenommen. Nun folgt dazu ein weiterer Beitrag: Ein Interview über das neue Online-Fachperiodikum Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften (ZfdG), das sich zum Ziel gesetzt hat, eine nachhaltige Webinfrastruktur für digitale geisteswissenschaftliche Publikationen zu bieten. Wir haben der Redaktionsleiterin der ZfdG, Dr. Constanze Baum, unsere Fragen gestellt.
"Digitales Publizieren als seriöses und vertrauenswürdiges Format etablieren"
L.I.S.A.: Frau Dr. Baum, seit gut einem halben Jahr besteht das E-Journal „Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften“ (ZfdG), das von Ihnen redaktionell geleitet wird. Bevor wir eine erste kleine Rückschau machen – was ist die zentrale Idee hinter dem Journal? Wie ist es überhaupt entstanden? Wer steckt dahinter?
Dr. Baum: Die Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften (ZfdG) hat sich zum Ziel gesetzt, relevante Forschungsbeiträge aus dem Bereich der Digital Humanities (DH) in einer innovativen digitalen Publikationsumgebung zu veröffentlichen. Inhalt und Form sollen korrespondieren, weshalb wir ein reines Digital-Magazin entwickelt haben. DH verbindet informatische und geisteswissenschaftliche Fragestellungen und Methoden in unterschiedlichster Weise, ein faszinierendes Feld für neue Forschungsfragen und -perspektiven auf Texte und Objekte. Elektronische Journale mit einer vergleichbaren Ausrichtung im deutschsprachigen Raum sind rar gesät. Hier haben wir einen Bedarf identifiziert, den wir mit der ZfdG abdecken wollen, um uns zugleich im Feld des digitalen Publizierens zu positionieren. Der Erfolg der ersten Phase gibt uns recht: die ZfdG ist innerhalb kurzer Zeit sehr gut von der DH-Fachcommunity angenommen worden, unsere konzeptuellen Ideen wurden bereits prämiert. Die mittlerweile veröffentlichten Artikel und die redaktionelle Arbeit finden vielfach Aufmerksamkeit und werden bereits zitiert und empfohlen.
Wir möchten aber nicht nur einen Anlaufpunkt für Beiträger etablieren, die ihre Forschungen in der Kategorie „Projektvorstellung“ zur Diskussion stellen, sondern auch Raum für eine kritische Diskussion über DH bieten, denn die Begegnung von Informatik und Geisteswissenschaft offenbart an vielen Punkten ja nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch Grenzen unserer Fachkulturen. Entsprechend haben wir auch unseren ersten Sonderband, den ich zusammen mit Thomas Stäcker verantworte, in Anlehnung an eine internationale DH-Konferenz betitelt, aus der die Beiträge hervorgegangen sind, in dem wir diesem produktiven Spannungsverhältnis nachgehen: Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities.
Es geht der ZfdG darüberhinaus darum Beiträge vorzustellen, die sich Beständen aus Archiven und Bibliotheken widmen und diese zum Anlass nehmen, eine digital ausgerichtete Fragestellung zu entwickeln, um das kulturelle Text- und Objekterbe in neue Ansätze einzubinden und für unsere Forschungen lebendig zu halten. Dies hängt unmittelbar mit den Kontexten zusammen, in denen die ZfdG entstanden und situiert ist – dazu gleich ausführlicher. Es war uns jedenfalls daran gelegen, für die Diskussionen der Digital Humanities eine deutschsprachig operierende Plattform zu gründen, die den rasanten Entwicklungen der letzten Jahre in dieser Hinsicht Rechnung tragen kann und ein adäquates Publikationsmedium unter einer starken Trägerschaft bietet. Dass wir eine solche Aufgabe angehen können, ist der Tatsache zu danken, dass sich die drei großen Forschungsbibliotheken und -archive in der Bundesrepublik – das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die Klassik Stiftung Weimar und die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel – zu einem Forschungsverbund zusammengeschlossen haben. Dieser wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und erlaubt uns, neben spezifischen Forschungsprojekten und der Entwicklung einer virtuellen Forschungsumgebung, die die Häuser digital zusammenbinden wird, auch in Hinblick auf Publikationsformate gemeinsam an neuen Ideen und Konzepten zu arbeiten. Neben der bereits existierenden Zeitschrift für Ideengeschichte (ZIG) als einem klassischen Print-Produkt des Verbundes schien es besonders reizvoll, die Möglichkeiten digitalen Publizierens auszuloten. Die Anbindung an die reichhaltigen Bestände unserer Häuser wollen wir dabei im Blick behalten und sind deshalb bestrebt, auch solchen Beiträgen zu Publikation zu verhelfen, die sich im Rahmen unseres Profils dezidiert damit auseinandersetzen.
Ich bin vom Forschungsverbund MWW Mitte 2014 mit der Aufgabe betraut worden, ein solches innovatives E-Journal aufzubauen und – sagen wir zu einem gewissen Anteil – quasi zu ‚erfinden’ oder jedenfalls neu zu denken. Eine erste Phase meiner Arbeit bestand in der Sichtung und Auseinandersetzung mit vorhandenen digitalen Publikationsformaten und der Erarbeitung eines eigenen Konzepts für die ZfdG. Bewusst haben wir die Chance ergriffen, jenseits von zurzeit kursierenden Standardlösungen (z.B. OJS im Bereich des E-Journalbereichs) nach Perspektiven Ausschau zu halten, die es ermöglichen, das digitale Publizieren überhaupt als Format für die Geisteswissenschaften attraktiv zu gestalten und damit zu stabilisieren. Anleihen und Anregungen kommen hier von Konkurrenzprodukten aus dem naturwissenschaftlichen Bereich, aber auch aus der Open Science-Bewegung. Wichtige Komponenten sind dabei Open Access, eine transparente Lizensierung, eine persistente Adressierung und das Angebot einer Langzeitarchivierung der Beiträge sowie eine Indexierung in bibliothekarischen Katalogsystemen. Wir operieren mit dem Ausgangsformat XML und bieten vielfältige Ausgabeformate für unsere Nutzer, die das Arbeiten und Lesen der bei uns veröffentlichten Artikel in den für sie geeigneten Medienformaten vornehmen können.
Wenn es uns gelingt, digitales Publizieren in diesem Sinne als seriöses und vertrauenswürdiges Format zu etablieren – und das gilt es auf der vor uns liegenden Wegstrecke langfristig noch zu erweisen –, dann leisten wir damit unseren Anteil an der wissenschaftspublizistischen Wende, die die Geisteswissenschaften in den nächsten Jahren beschäftigen wird. Eine Vision meiner Arbeit ist es dabei immer gewesen, ein Format zu schaffen, dass auch für andere anschlussfähig ist oder anregt, vergleichbare Wege einzuschlagen.
Wer steckt aber konkret hinter der ZfdG? Die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, in der die Entwicklungen im Bereich Digitalisierung und digitaler Edition in den letzten Jahren stark vorangetrieben worden sind, ist Hauptstandort der Redaktion. Diese Redaktion besteht aus der redaktionellen Leitung, die ich zurzeit innehabe, und einem kleinen Team von Mitarbeitern, das sich zusammen mit mir um die technische Entwicklung und Umsetzung sowie die Betreuung der Autoren und die Archivierung der Beiträge kümmert. Die technische Expertise steuert Timo Steyer bei, für die bibliothekarische Nachhaltigkeit sorgt Henrike Fricke. Mit Kathleen Marie Smith von der Standford University haben wir eine ausgewiesene Fachkraft für das englische Lektorat gefunden. Für inhaltliche Fragen zeichnet hingegen eine Fachredaktion verantwortlich, die sich aus Expertinnen und Experten zusammensetzt, die aus den Häusern des Forschungsverbunds stammen und die Arbeit der ZfdG neben ihren eigentlichen Tätigkeiten durch ihre Expertise unterstützen. Zudem arbeiten wir eng mit dem Verband Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd) zusammen. Auch dieser entsendet Experten in die Fachredaktion. Der Redaktionsalltag organisiert sich sehr stark über elektronische Kommunikation. Operationales können wir also in Wolfenbüttel klären, Inhaltliches wird im virtuellen Raum verhandelt – auch das stellt neue Herausforderungen an eine Zeitschrift: In der Hauptsache gilt es, verschiedene elektronische Kommunikationskanäle zu bedienen und zu koordinieren – mein Telefon klingelt daher sehr selten.