Nico Nolden beschäftigt sich seit gut neun Jahren mit dem Verhältnis von digitalen Spielen und Geschichtswissenschaft. Seit 2009 gibt es sein Blog Keimling, zusammen mit anderen Forscherinnen und Forschern gründete er 2015 den Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele. Im Interview spricht er über seine persönlichen Motivationen, die Auswirkungen digitaler Spiele auf das Geschichtsbewusstsein und die Geschichtskultur sowie über die Attraktivität digitaler Spiele. Wie beeinflussen diese die Geschichtswissenschaft? Welche Epochen werden thematisiert? Und warum fand das Genre in der Fachwissenschaft bislang so wenig Beachtung?
"Mangelhaftes Verständnis des spezifischen medialen Charakters digitaler Spiele"
L.I.S.A.: Die Auswirkungen digitaler Spiele auf das Geschichtsbewusstsein haben in der Fachwissenschaft bislang kaum Beachtung gefunden. Woran könnte das liegen?
Nolden: Tatsächlich entdeckten die Geschichtswissenschaften mit viel Verspätung gegenüber anderen Fachwissenschaften den Gegenstand für sich. Angela Schwarz hob im deutschsprachigen Raum bereits 2008 mit einer Tagung und einer nachfolgenden Aufsatzsammlung das Thema auf die Tagesordnung. Fast eine Dekade lang etablierte sich kein fachgerechter Diskurs, er blieb sporadisch, wenig vernetzt und widersprüchlich. Diese Zögerlichkeit lag an vielen Gründen, zwei halte ich jedoch für zentral.
Den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland prägten über Jahrzehnte Bedenkenträger. Psychologische, medienpädagogische und kriminalistische Studien mit so medienwirksamen Skandalthesen wie fragwürdigen Methoden behaupteten Zusammenhänge zwischen digitalen Spielen und Gewaltneigung, kindlichen Lerndefiziten und körperlichen Entwicklungsstörungen. Als Historiker müsste man eigentlich schmunzeln, weil diese oft politisch motivierten Pauschalurteile zur Genüge von Vorbildern bekannt sind - das Aufkommen des Radios, farbliche TV-Übertragungen oder Heavy Metal-Musik. Das Schmunzeln vergeht einem aber, wenn die Polemik die Bevölkerung für dumm verkauft. Es ist halt viel billiger, nach einem Amoklauf Verbote von Killerspielen zu fordern, als Sozialpädagogen an Schulen einzustellen und Eltern zu beraten. Die Alarmisten sind glücklicherweise auf dem Rückzug, weil gründlichere Forschungsergebnisse viel differenziertere Ergebnisse liefern. Wohlüberlegte Ausgewogenheit eignet sich allerdings viel weniger für Schlagzeilen.
Zweitens finden sich Gründe für die Verspätung auch in der Geschichtswissenschaft selbst: Im Wesentlichen begreifen ihre Vertreterinnen und Vertreter diese als eine textbasierte Buchwissenschaft. Davon abweichende Ansätze wie beispielsweise Oral History, die historische Bildwissenschaft oder Soundgeschichte haben es demgegenüber schon immer schwerer gehabt. Sie gewinnt nicht nur primär ihre Erkenntnisse aus Texten, sie produziert in der Regel selbst in dieser Form. Deshalb fühlen sich Historikerinnen und Historiker dort zuhause. Darin liegt ein wesentlicher Grund, warum ihnen ein Umgang mit dem Gegenstand schwerfällt. Sie besitzen nur ein mangelhaftes Verständnis des spezifischen medialen Charakters digitaler Spiele und wie dieser sich auf jene historischen Inszenierungen auswirkt, welche die Spielenden hervorrufen.