Siegfried Kracauers Leben war ein Leben voller Zweifel, Fragen, Brüche und schicksalhaften Wendungen. Seine soziale und geistige Umgebung prägten vor allem drei Weggefährten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ähnliche Lebenswirklichkeiten erfuhren: Ernst Bloch, Walter Benjamin und Theodor Adorno. Gemeinsam bildeten sie das Philosophische Quartett der 1920er und 1930er Jahre - eine Gruppe von freidenkenden Außenseitern jüdischer Herkunft, die sich zunehmend einem feindseligen Umfeld gegenübersahen. Der nationalsozialistische Terror sprengte diese Gruppe, die Schicksale der vier Intellektuellen nahmen unterschiedliche Verläufe und Ausgänge an. Der Historiker Dr. Jörg Später von der Universität Freiburg hat sich einen der vier Denker ausgesucht und über das Leben, Denken und Wirken Siegfried Kracauers ein außergewöhnliches Buch geschrieben. Wir haben ihm zu seiner Kracauer-Biographie unsere Fragen gestellt.
"Die großen kanonischen Texte der Kulturwissenschaft haben ein lebensweltliches Unterholz"
L.I.S.A.: Herr Dr. Später, Sie haben eine neue umfassende Biographie über Siegfried Kracauer vorgelegt. Bevor wir auf Ihr Buch und Ihren Protagonisten konkreter eingehen, was hat Sie zu diesem Projekt, das Leben Siegfried Kracauers zu erforschen, bewogen? Welche Frage stand am Anfang Ihres Vorhabens?
Dr. Später: Am Anfang des Forschungsprojekts stand ein Universitätsseminar über Kracauer, währenddessen ich den gerade herausgekommenen Briefwechsel zwischen Adorno und Kracauer las. Das war eine ungeheure Entdeckung eines doch im Grunde selbstverständlichen Sachverhalts: dass nämlich auch die großen kanonischen Texte der Kulturwissenschaft ein lebensweltliches Unterholz haben. Aber daran denkt man meistens nicht. In diesem Briefaustausch wurde mir klar, wie prekär die Lebensbedingungen dieser beiden späteren Granden der Suhrkamp-Kultur vor 1945 und zum Teil darüber hinaus waren, mit welcher hypochondrischen Empfindlichkeit diese Intellektuellen zu kämpfen hatten und welch wache Empfindsamkeit daraus hervorging. Wenn sie von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ sprachen und schrieben, geschah dies vor dem Hintergrund einer sozialen Obdachlosigkeit. Diese jungen Männer waren „freischwebende Intellektuelle“ im wortwörtlichen Sinn – nahezu ohne soziale Sicherheit arbeitend, nahezu ohne Geländer denkend, keiner Gemeinschaft angehörend. Zunächst wollte ich eine Gruppenbiographie über Kracauer und Adorno plus Benjamin und Bloch schreiben. Daraus wurde dann die Kracauer-Biographie. Denn eine solche gab es bisher nicht, und viele warteten darauf.