Kennengelernt haben wir uns bei L.I.S.A.Facebook. Susanne Wosnitzka kommentiert dort immer wieder einmal unsere Einträge. Die meisten Kommentare entfielen dabei auf die L.I.S.A.video-Reihe "Bachs Thomaner". Die Musikwissenschaftlerin machte uns und alle anderen Leserinnen und Leser darauf aufmerksam, dass Frauen in der Musikgeschichte so gut wie nicht vorkommen - wenn, dann höchstens als die "Frau von" und die "Schwester des". Dass Frauen aber selbst Musik(geschichte) geschrieben, komponiert und in einigen Fällen auch dirigiert haben, weiß kaum jemand. Wir haben Susanne Wosnitzka, die dazu forscht, um ein Interview gebeten.
"So wird leider Geschichts(ver)fälschung betrieben"
L.I.S.A.: Frau Wosnitzka, Sie sind Musikwissenschaftlerin. Zuletzt haben Sie auf mehrere Facebook-Einträge der L.I.S.A.-Redaktion in Kommentaren immer wieder darauf hingewiesen, dass Frauen in der Geschichte nach wie vor nicht ausreichend berücksichtigt werden. Was muss sich ändern?
Wosnitzka: Wie die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch einmal sagte: "Angenommen, es befinden sich 99 Sängerinnen und ein Sänger in einem Konzert; die Rede wird von 100 Sängern sein." Warum? Dadurch, dass jahrhundertelang Frauen und ihre Geschichte(n) unterdrückt, negiert oder bewusst außen vor gelassen wurden, haben wir heute dieses Defizit, auch in der Sprache und Wahrnehmung. Die Geschichtsschreibung war sehr lange eine männliche, an die Universitäten dürfen Frauen erst seit etwas mehr als hundert Jahren, und auch das erst nach teils heftigen Kämpfen darum. Frauen, die sich ernsthaft um Erfindungen/Musik/Technik/etc. bemüht hatten, wurden abgetan. Frauen, die komponieren wollten, wurden regelrecht davon abgehalten, sich mit Orchestermusikern oder Dirigenten auszutauschen – auch deshalb gibt es z.B. nur relativ wenig Sinfonien von Frauen.
Einige Universitäten bieten Genderlehrstühle an, die sich mit der auch sozialen Rolle von Mann und Frau auseinandersetzen und dahingehend forschen. Leider werden diese noch oft – auch vom Kollegium – belächelt. Es kann nicht angehen, dass z.B. im Fach Geschichte zwar Kriege und Herrscher durchgenommen werden, ihre Frauen, die teils dafür gesorgt hatten, dass Kriege erst gar nicht losgetreten wurden, nicht genannt werden. So wird leider Geschichts(ver)fälschung betrieben. Wo immer möglich, sollte auch geschaut werden, welche Rolle die Frauen an diesem und jenem Zeitpunkt gespielt haben. Nur durch das Wissen darum, kann es auch vermittelt werden: daher müssen Lehrpläne schon in Schulen dahingehend gestaltet werden, dass auch die Frauen nicht zu kurz kommen, muss Lehrpersonal dahingehend geschult, muss Frauengeschichte auch im Studium aufs Tablett gebracht werden, weil dort die nächste Generation an Forscher_innen und Lehrenden ausgebildet wird.
Auch in der Sprache müssen Frauen sichtbar werden. Wer rein von "Komponisten" schreibt, meint auch Komponisten; wird von "Sportlern" gesprochen, stellen sich die allermeisten Leute männliche Wesen vor. Einige Studien dazu bestätigen das. Das "Mitmeinen" von Frauen muss aufhören. Umstellen müssen sich auch v.a. die Notenverlage: vielfach kann auf ihren Seiten nur nach Musik von Männern gesucht werden, weil man nur unter dem Stichwort "Komponist" suchen kann, nicht aber nach "Komponistin". In letzterem Fall ergibt die Suche 0 Treffer, und dann hören viele Menschen, die sich nicht sonderlich mit Musikgeschichte auskennen, an dieser Stelle auf und meinen, es gäbe eben keine Musik von Frauen. Kleine Ursache, große Wirkung.
Kinder, also unsere nächste Generation, brauchen Vorbilder, aber was tun, wenn weibliche Vorbilder kaum sichtbar sind, wenn z.B. Dirigentinnen vor ihren Aufführungen noch ausgebuht werden, wie das Simone Young in Hamburg passiert ist? Wenn eben Werke von Frauen im Unterricht keine Rolle spielen, wenn Werke von Frauen kaum gespielt werden? Dieser noch vorhandene Kreislauf muss und kann mit z.B. den oben genannten Vorschlägen relativ einfach aufgebrochen werden. Das geht aber nur, wenn viele, viele Menschen bereit sind, mitzumachen. Und deshalb sind viele Veranstaltungen zum Thema "Frau und Stellenwert in der Geschichte" auch oftmals noch Aufklärungsveranstaltungen. Erst wenn das alles in den Köpfen der Menschen angekommen ist, kann Gleichberechtigung wirklich umgesetzt sein.