Es ist ein sonniger Frühlingsnachmittag in der Provinzhauptstadt Guiyang in Südwestchina. Ich treffe mich mit Frau Prof. Gong Nili in ihrer Wohnung in der Nähe des Unicampus. Frau Gongs Wohnung ist zwar, was den eigentlichen Wohnbereich betrifft, nicht sehr groß, beinhaltet aber dazu noch drei Arbeitszimmer voll mit Büchern. An der Wand hängt ein traditionelles chinesisches Instrument, eine Qin-Zither. „Wir haben einen Verein der Qin-Freunde an der Uni“, sagt Frau Gong. „Immer mehr und mehr Leute wollen an unserer Gruppe teilnehmen. Qin-Spielen ist ein traditioneller chinesischer Weg der Selbstkultivierung.“ Wie in China üblich, kommt das weitere Gespräch erst in Gang, als eine Tasse mit heißem Grüntee vor der Besucherin steht.
"Musik bedeutet eine Einheit des menschlichen Herzgeistes und der natürlichen Klänge"
Peng: Frau Gong, ich freue mich sehr, dass ich Sie heute wiedersehen darf. Das letzte Mal haben wir uns im Jahre 2009 getroffen. Wir hatten ein sehr interessantes Gespräch über chinesische Musik. Heute möchte ich Sie als Stipendiatin der Gerda Henkel Stiftung in Deutschland weiter zu diesem Thema interviewen.
Gong: Ja, sehr gerne! Wie ich weiß, interessieren sich immer mehr ausländische Leute für die lebendige Geschichte der chinesischen Kulturtradition. Ich hoffe, dass sie dabei auch gerne chinesische Musik hören und verstehen möchten.
Peng: Können Sie uns einmal ganz allgemein erklären, welche Rolle die chinesische Musik in der chinesischen Kultur spielt?
Gong: In der traditionellen chinesischen Kultur ist die Musik nicht nur eine bloße Kunstform, die gleichwertig neben anderen steht. Sie stellt vielmehr eines der wichtigsten Kulturphänomene dar. Das Musikverständnis der Chinesen ist von Anfang an ein besonderes: Musik bedeutet eine Einheit des menschlichen Herzgeistes und der natürlichen Klänge. Von jeher gilt die Musik als das vereinigende Band von Natur, Menschen und Gesellschaft. In den drei Grundströmungen des Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus wird Musik als höchste Form und höchster Ausdruck des Lebens aufgefasst.
Peng: Wie sind die Verbindungen zwischen traditioneller chinesischer Musik und anderen chinesischen Kunstformen, z.B. Malerei, Kalligraphie und Tanz, zu denken?
Gong: Interessanterweise sind fast alle traditionellen chinesischen Kunstformen im weiteren Sinne sehr „linear“ angelegt. Die Kalligraphie basiert auf einzelnen Pinselstrichen. Auch in der Malerei sind die Linien wichtiger als beispielsweise die Farbe. Entsprechend wird auch in der traditionellen Architektur großer Wert auf die Linienführung der Gebäude gelegt. Die traditionelle chinesische Musik kennt keine Harmonien im engeren Sinne, wie sie in der westlichen Musik so wichtig sind. Auch hier steht eine „lineare“ Bewegung im Zentrum, nämlich die der Melodie.