Die sozialistischen Volksrepubliken in Europa waren in den 1980er mit ähnlichen Verkehrsproblemen konfrontiert wie die westlichen Gesellschaften: verschmutze Luft, Lärm, Mangel an Parkplätzen, verstopften Straßen und Dauerstaus in Stoßzeiten. Entsprechend spielte das Fahrrad in den Überlegungen der Stadtplaner zunehmend eine größere Rolle, so auch in Ungarn, genauer in der Großstadt Budapest. Die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Dr. Katalin Tóth hat die Bedeutung des Radverkehrs in der ungarischen Hauptstadt sowie dessen verkehrspolitische und kulturelle Neubewertung unter historischen und ethnologischen Fragestellungen im Rahmen ihrer Dissertationsprojekts erforscht. Wir haben ihr dazu unsere Fragen gestellt.
"Durch den Zustand des Verkehrs war die Atmosphäre in der Stadt angespannt"
L.I.S.A.: Frau Dr. Tóth, Sie haben jüngst Ihr Dissertationsprojekt abgeschlossen – das Buch liegt nun vor und trägt den Titel "I love Budapest. I bike Budapest?" Urbaner Radverkehr in der ungarischen Hauptstadt, 1980–2014. Bevor wir zu Einzelheiten kommen, wie ist die Themenfindung erfolgt? Was hat Sie am Radverkehr in Ungarn interessiert?
Dr. Tóth: Das Thema ist für Außenbetrachter ein offensichtlicher Widerspruch. Die Metropolen in Ostmittel- oder Südosteuropa sind in der Gegenwart oft auf ihre antidemokratischen Entwicklungen und das Bild von billigen Jet-Set-Tourismus-Destinationen reduziert worden. Über das Innenleben dieser Städte ist wenig bekannt. Es scheint auf den ersten Blick illusorisch, dass der Radverkehr in den Metropolen eine Chance hat. Und dennoch: In den letzten Jahren hat man in einigen dieser Städte, wie Ljubljana, Warschau und Budapest, viel für den Radverkehr getan.
In Budapest wurde der Verkehr nach 1989 immer katastrophaler. Die Agglomeration um Budapest herum wuchs wild und so auch der Pendlerverkehr. Der Nahverkehr war seit den 1980er Jahren chronisch unterfinanziert. Durch den Zustand des Verkehrs war die Atmosphäre in der Stadt angespannt: Veraltete Busse und Straßenbahnen, Zeitverlust durch Dauerstaus, verschmutze Luft sowie zugeparkte Bürgersteige waren eine Belastungen für die Bevölkerung im Alltag.
Als gebürtige Budapesterin war ich Augenzeugin, wie junge Leute in den 2000er Jahren aufgrund der Verkehrsprobleme der Stadt auf das Fahrrad umgestiegen sind. Es war ein befreiendes Moment und eine Chance, sich die Stadt neu anzueignen. Revolutionär war das deshalb, weil Radfahren in Budapest in den 1990er Jahren noch als äußerst gefährlich galt. Dieser urbane Wandlungsprozess faszinierte mich, weil er durch eine breite, zivilgesellschaftliche Bewegung - die Critical Mass Budapest - getragen wurde. Die ersten Recherchen zum urbanen Radverkehr machten mir schließlich klar, dass es hier um einen weltweiten Trend, eine Verkehrswende geht, zu der es für Osteuropa noch keinen Beitrag aus der Forschung gibt.