Klein: Sie sprechen in einem kürzlich erschienenen Artikel von enormer Divergenz in der Bewertung der Kulturrevolution und von Defiziten in deren Erforschung. Was sind die dominanten Bewertungen der Kulturrevolution in der derzeitigen Forschung? Inwiefern deckt sich dies mit Ihren eigenen Ansätzen und Themen?
Leese: Eines der dominanten Interpretationsschemata ist es, die Kulturrevolution als einen konsistenten Zeitraum von zehn Jahren des Chaos oder der Gewaltherrschaft zu verallgemeinern. Diese Sichtweise ist in der chinesischen Definition gemäß der Resolution von 1981 sehr dominant und wurde auch von vielen westlichen Forschern so übernommen. Letztere gehen dabei zumeist von einem demokratischen Verständnis aus und wurden von kritischen Forschern in der VR China in der Mitte der 1980er wie Yan Jiaqi oder in Barnouins Buch „Ten Years of Turbulence“ im Wesentlichen unterstützt, ebenso wie auch durch eine Vielzahl von Memoirenliteratur, die leichter zugänglich war als Originalquellen. Das ist sicherlich ein sehr starkes Bewertungsraster, welches einerseits die Parteiorthodoxie bestätigt, und auf der anderen Seite die Opfernarrative der Intellektuellen und Kader aufnimmt.
Daneben gibt es noch inzwischen sehr marginalisierte Gruppen, welche Deutungen bevorzugen, die die positiven, emanzipatorischen Elemente der Kulturrevolution betonen. Das ist in erster Linie bei Alain Badiou oder Alessandro Russo der Fall, die insbesondere die Suche nach einem alternativen Weg politischer Repräsentation in den Jahren 1966 bis 1968 beschreiben. Dieser philosophisch geprägte Diskurs ist in der sinologischen Forschung kaum zu finden, während die Sinologen wiederum aus dieser Perspektive als unfähig, die größere Bedeutung der Kulturrevolution zu verstehen, beschimpft werden. Es sind also Diskurse, die nicht in allzu nahem Kontakt stehen.
Daher ist es dringend geboten, dass man zuerst einmal die Periodisierung der Kulturrevolution überdenkt, um zu klären, was man mit dem Begriff „Kulturrevolution“ überhaupt meint. Denn dieser Zehnjahreszeitraum fügt sich nicht sinnvoll in ein konsistentes, einfach bewertbares Schema. Ferner ist es immer noch ein erhebliches Problem, dass ein Großteil der Forschung sich auf bedeutende Persönlichkeiten konzentriert: „Was hat Mao gedacht, hatte er gute Intentionen, was ist dabei herausgekommen?” Dieser Fokus auf großen Männern und großen Leistungen ist häufig zu finden, auch wenn man in die deutsche Geschichte schaut, z.B. auf die Leistungen von Bismarck. Sozialhistorische, mentalitäts- oder lokalgeschichtliche Zugänge stecken noch in den Kinderschuhen. Sie werden ein ganz anderes Bild auf die Kulturrevolution bzw. die Kulturrevolutionen werfen, je nachdem was an Quellen jetzt noch erschlossen werden kann.
Die Tendenz der Forschung geht in diese Richtung. Ich selbst forsche momentan nur noch indirekt zur Kulturrevolution, indem ich untersuche, wie gewisse Kampagnen oder das Schicksal von Individuen nach der Kulturrevolution bewertet wurden. Die Tendenz der aktuellen Forschung zeigt, dass es nicht mehr nur darum geht, die Gewalt der Rotgardisten in der frühen Phase und das Leid der Intellektuellen zu betrachten.
Nölle: Was hat Ihrer Meinung nach einen größeren Stellenwert als Motor der Bewegung: Maos Machtpolitik oder grundlegende Konflikte innerhalb der damaligen chinesischen Gesellschaft?
Leese: Darauf gibt es keine klare Entweder-oder-Antwort. Die Kulturrevolution ist ohne Mao nicht denkbar. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, wäre die Kulturrevolution so nicht geschehen. Daher ist als Antriebskraft für den Beginn der Kulturrevolution Mao Zedongs machtpolitischer und sicherlich auch ideologischer oder philosophischer Einfluss entscheidend. Allerdings nahmen die Steuerungsmöglichkeiten Mao Zedongs ab, sobald die Bewegung erst einmal ins Rollen geraten war, spätestens seit Herbst 1966, als es zu einem Aufbrechen unterschiedlicher gesellschaftlicher Konflikte kam. Die alten bzw. grundlegenden Konflikte, wie Sie es nennen, waren aber nicht der alleinige Motor dieser Bewegung, sondern es entstanden auch neue Konflikte. Im Wesentlichen ist es ein permanentes aufeinander Bezug nehmen von alten Konflikten, neuen Konflikten und Stellungnahmen von unterschiedlichen Akteuren aus der Zentrale, die versuchen, die Bewegung in ihrem Interesse zu steuern.
Deswegen verlief die Bewegung auch lokal sehr unterschiedlich und ist differenziert zu betrachten. Spätestens seit der Etablierung der Revolutionskomitees beginnt die zentrale Steuerung wieder stärker zu greifen, wobei hier nicht allein Mao zu nennen ist, sondern auch die Armee starken Einfluss nahm und teilweise Lokalkader eine Rolle spielten. In den Grenzregionen, zum Beispiel in der Inneren Mongolei, war Maos Einfluss in der Hochphase der Kulturrevolution eher begrenzt. Das Gleiche gilt für Yunnan oder Guangxi. Es gab also unterhalb von Mao eine ganze Reihe von anderen Akteuren, die untersucht werden müssen. Die Provinzebene ist in vielen Bereichen weitgehend unerforscht. Dafür gab es zwar Ansätze, aber selbst viele Kulturrevolutionsspezialisten könnten nicht aus dem Stegreif sagen, was z.B. in der Kulturrevolution in Heilongjiang oder in Jilin passiert ist. Guangxi kennen wir jetzt einigermaßen, auch die Neirendang–Bewegung im Groben, aber viele Regionen sind noch weitestgehend eine Blackbox für die Forschung. Das ist ungewöhnlich und verblüffend, wenn man überlegt, dass das Ganze mittlerweile 50 Jahre her ist. Da ist noch einiges an Forschungsarbeit von meiner und Ihrer Generation zu leisten.
Klein: Finden Sie es angemessen, dass manche Forscher Hitler und Mao bzw. den Holocaust und die Kulturrevolution gleichsetzen?
Leese: Es sind zwei verschiedene Dinge, die Personen zu vergleichen und den Holocaust mit der Kulturrevolution gleichzusetzen. Letzteres würde ich ablehnen, beim Ersten kommt es ganz stark auf den Vergleichsrahmen an. Wenn wir fragen, wie haben Diktatoren unter den Bedingungen von Massenmedien und Massenpolitik agiert, dann gibt es eine ganze Reihe an Möglichkeiten, wie Persönlichkeiten wie Hitler, Mao, oder Stalin verglichen werden können. Besonders, weil es strukturelle Ähnlichkeiten gibt, die die Herrschaft eines Diktators im 20. Jahrhundert anders gestalteten als die, sagen wir, eines Königs im 18. Jahrhundert. Unter solch einer strukturellen Perspektive ist es durchaus möglich, Hitler und Mao zu vergleichen. Dass die ideologischen Hintergründe völlig andere sind, steht außer Frage. Man kann aber natürlich auch darüber sprechen kann, inwieweit es in der krisenhaften Wahrnehmung der Wirklichkeit und im Begriff des Politischen Parallelen gibt. Wenn wir beispielsweise an die grundlegende Freund/Feind–Dichotomie denken, an die Ähnlichkeiten von Teilen der Theorien Carl Schmitts und dem, was Mao gedacht hat. Mao war allerdings ein viel politischerer Denker als Hitler. Hier wird es mit dem Vergleich schon sehr schwierig. Trotzdem gibt es Möglichkeiten des strukturellen Vergleichs im Rahmen der Forschung über Führerkulte und Massenbewegungen im 20. Jahrhundert.
Die Gleichsetzung der Kulturrevolution mit dem Holocaust ist jedoch meiner Ansicht nach abzulehnen. Zumeist wird die Kulturrevolution als „ideologischer Holocaust“ bezeichnet und auch dies ist sehr problematisch. Darüber hinaus gibt es jedoch kaum Forscher, die in der Kulturrevolution von der Absicht einer gezielten Tötung bestimmter Menschengruppen ausgehen – insbesondere der vier bzw. fünf schwarzen Klassen. Nur wenige Forscher behaupten ernsthaft, hier hätte eine Art eliminatorische Klassenideologie bestanden, und dass Mao in erster Linie auf die physische Zerstörung einer dieser Klassen aus gewesen sei. Für Mao war Gewalt oder auch das Töten von Menschen immer eher ein Mittel und weniger ein Zweck an sich. Es gibt eine Vielzahl von Reden, in denen Mao sagt, dass ein Kopf, der abgeschlagen wurde, nicht nachwachsen kann. Es geht ihm darum, Mitglieder dieser Klassen zu reformieren und nutzbar zu machen, und wenn dabei dennoch Tausende über die Klinge sprangen, dann betrachtete er dies als Kollateralschaden. Da ist ein großer Zynismus im Spiel, den man zum Teil aus der gewalttätigen chinesischen Vergangenheit heraus – auch in Maos eigener Biographie – zumindest in Teilen nachvollziehen kann. Aber dies ist etwas ganz anderes als die gezielte „Endlösung“ der „Judenfrage“.
Nölle: In Ihrem Buch Mao Cult schreiben Sie zu Personenkult und Ikonisierung: „[…] the Little Red Book played a crucial role in the unfolding of the Cultural Revolution and the rise of its specific rhetoric.“ (S. 108) Können Sie konkret erklären, wie das Buch die Entwicklung der Kulturrevolution beeinflusst hat?
Leese: Das hängt mit dem Grundcharakter der Kulturrevolution zusammen. Es gibt sozusagen zwei Gründungsdokumente, die beide in sich inkonsistent sind. Die „Erklärung vom 16. Mai 1966“ und die „16 Punkte“ aus dem August 1966. Es gibt, wenn man so will, keine wirkliche Positivvision dessen, was die Bewegung bewirken sollte, und daher ist das Kleine Rote Buch, das per se einen Zitatcharakter aufweist, ganz entscheidend für die Art und Weise, wie sich die Bewegung entwickelt hat. Dies ist in der Tatsache begründet, dass es keine klare Linie, keinen Masterplan der Kulturrevolution gab, und vielfältige Argumente auf der Basis von Mao-Zitaten begründet werden konnten. Solange eine offizielle exegetische Instanz nicht existierte, die vorgab, dass ein Satz aus dem Kleinen Roten Buch so und so zu lesen sei, gab es die Möglichkeit individueller oder gruppenspezifischer Auslegungsweisen der jeweiligen Sprüche. Dies beförderte Rivalitäten. Die Tatsache, dass sich unterschiedliche Gruppen als loyal dem großen Vorsitzenden gegenüber positionieren konnten, obwohl sie andere politische Positionen einnahmen, beförderte Konflikte. Durch den Zitatcharakter, der nicht zu einem geschlossenen Weltbild führte, fächerte sich die Rezeption in unterschiedlichste Positionen auf. Für die einen war die Kulturrevolution eine große Schule kritischen Denkens und der Etablierung demokratischer Werte in der Gesellschaft, während es für andere eher eine Form der Indoktrinierung war. Es sind zu Beginn der Bewegung sicherlich beide Möglichkeiten angelegt, aber spätestens als das Militär eingreift und die Auslegung ritualisiert wird, anstatt das Buch kritisch zu lesen, kommt die Situation in ein anderes Fahrwasser.
Grundsätzlich würde ich sagen, dass das Kleine Rote Buch zum einen alleine durch seinen Zitatcharakter und zum anderen durch seine spezifische Form die Kulturrevolution entscheidend mitgeprägt hat, auch weil es in den Führerkult von Anfang an als prägendes Element einbezogen wurde. Das Buch diente also nicht nur der kritischen Lektüre zur Überwindung des Revisionismus, sondern war gleichzeitig auch Ausweis der persönlichen Loyalität bzw. der jeweiligen Beziehung zum großen Vorsitzenden. Es ist mehr als nur eine Schrift. Es ist ein Symbol und war auf diesem Wege auch teilweise ritualisiert zu verwenden, indem man es auswendig lernte, rückwärts studierte, es tanzte, oder Gymnastik dazu machte. Es ging darum, symbolische Ausdrucksformen zu finden, die die Ergebenheit zum großen Vorsitzenden zeigten. Durch seine Zitatfragmente und seine Symbolkraft, die eng mit dem Aspekt politischer Loyalität verbunden ist, bot das Kleine Rote Buch ein sehr breites Spektrum an Auslegungsmöglichkeiten, die sich der zentralen Kontrolle entzogen.
Nölle: In dem TV-Interview „Echo eines Diktators” beschreiben Sie die von Ihrer Forschungsgruppe erworbenen Akten. Halten Sie die Akten und die damit einhergehenden Ergebnisse Ihrer Forschung für repräsentativ oder haben Sie das Gefühl, mit dem Material nur die Spitze des Eisbergs zu sehen?
Leese: Es ist definitiv nur die Spitze des Eisbergs! Wir können nicht Millionen von Akten akquirieren. Repräsentativität ist nicht notwendigerweise das Ziel historischer Forschung in dem Sinne, dass man wie in der Politikwissenschaft eine gewisse Samplegröße akquiriert und dann sagt: So, meine Forschung ist repräsentativ.
Aber dennoch stellt sich die Frage der Aussagekraft der Quellen. Daher beziehen wir uns nicht nur auf individuelle Fallrevisionen und Lebensschicksale, sondern wir sammeln zusätzlich sowohl die zentralen Vorgaben als auch die Provinz- und Kreis-Umsetzungserlasse und versuchen so, ein möglichst umfassendes Bild der Situation zu bekommen. Wir untersuchen, inwieweit das Vorgehen regional unterschiedlich implementiert wurde. Wir haben mittlerweile über 4.000 Fälle, die wir gezielt in unterschiedlichen Fallstudien nach gewissen Kriterien auswerten. Dies hat somit zweifellos historische Aussagekraft, zumindest für die jeweils untersuchten Regionen und Themen. Aber Repräsentativität ist aufgrund des hochgradig lokalen Vorgehens bei den Fallrevisionen schwer erreichbar.
Unsere Datenbank wird überdies eine Sammlung aller zugänglichen chinesischen zentralen Zhongfa-Dokumente seit 1954 beinhalten. Wir haben nicht alle Dokumente und werden auch bestimmt nicht alle bekommen, aber es ist immerhin der Versuch, die Kommunikationsstrukturen der Partei besser zu verstehen, da diese Dokumente landesweit verbreitet und rezipiert wurden und damit eine gewisse Vergleichbarkeit erlauben.
Unser Anspruch ist sicherlich nicht, die zentralen Fragen nach Schuld und Verantwortung abschließend in allen Facetten zu erklären. Das könnten wir auch gar nicht. Hierfür wäre eine gesellschaftliche Debatte innerhalb Chinas notwendig. Wir geben nur Impulse und versuchen, diese Ansichten durch eine Fallstudie hier und da zu untermauern. Die Auswahl verwendeter Einzelfälle für diese Fallstudien haben wir natürlich nicht wahllos getroffen, sondern wir haben Gruppen gewählt, bei denen wir eine gewisse historische Relevanz annehmen. Letztendlich ist der Quellenzugang zwar begrenzt, aber wir haben versucht, das Beste daraus zu machen. Wenn der Zugang wider Erwarten in den nächsten Jahren besser werden sollte, sind wir natürlich froh, wenn wir die zusätzlichen Akten noch einbeziehen können.
Klein: Der Film „....nicht der Rede wert? Die Ermordung der Lehrerin Bian Zhongyun am Beginn der Kulturrevolution“ von Wolfgang Schwiedrzik, Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Hu Jie beleuchtet ein konkretes Opfer der Kulturrevolution. Was müsste Ihrer Meinung nach an Aufarbeitungsarbeit geleistet werden, damit die Opfer der Kulturrevolution angemessen behandelt werden und mit ihrer Vergangenheit abschließen können?
Leese: Hier sind zwei Begriffe problematisch: „Aufarbeitung“ und „Abschließen mit der Vergangenheit“. Wenn wir zunächst ganz konkret bei dem Beispiel bleiben, müssen wir uns fragen, um wen geht es hier? Eine Frau ist erschlagen worden, das Opfer, das bis heute hiervon am unmittelbarsten betroffen ist, ist ihr Mann. Gerade haben Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Cui Jinke in ihrem Artikel für China Quarterly nachgezeichnet, dass der Mann kein Teil des (Erinnerungs-)Kollektivs der Schülerinnen ist, die in der Mittelschule damals aktiv waren, die sich also gruppenspezifisch zusammengefunden und an der Aktion teilgenommen haben. Er hat eine relativ klare Vorstellung davon, wer für den Tod seiner Frau verantwortlich ist und er will die Person vor Gericht sehen. Das funktionierte nicht, aller Wahrscheinlichkeit nach, weil es sich um Kinder von sehr hochrangigen Parteikadern handelt und er im Gegensatz zu diesem Erinnerungskollektiv mit seinen Erinnerungen eher alleine dasteht.
Also scheint es in diesem speziellen Fall so zu sein, dass das Interesse des spezifischen Opfers darin besteht, eine Entschuldigung zu erhalten, was bislang nicht passiert ist. Möglicherweise wäre für ihn die Geschichte besser zu ertragen, wenn er diese Entschuldigung erhalten hätte oder wenn eine Verurteilung stattgefunden hätte. Aber ich würde davor warnen, dies als allgemeingültigen Prozess zu sehen. Es gibt sicherlich viele andere Fälle, in denen nicht ein einzelner Rotgardist der Schuldige ist, sondern Militärs oder staatliche Akteure, und ich glaube nicht, dass es so einfach möglich ist, in irgendeiner Form durch eine Entschuldigung die Vergangenheit zu „bewältigen“.
Dazu kommt, dass in Bezug auf Ausgleichsgesten viel mehr in China passiert ist als z.B. wir in Deutschland wahrnehmen. Wenn wir uns rein quantitativ anschauen, wie viele Personen in irgendeiner Form zumindest mit gewissen symbolischen Rehabilitierungen oder seltener auch materiellen Entschädigungen bedacht wurden, so ist dies durchaus ein massiver Vorgang, der auch den Vergleich etwa mit der deutschen Geschichte nach 1945 nicht zu scheuen braucht. Der große Unterschied besteht darin, dass in Deutschland z.B. durch Gerichtsprozesse wie die Auschwitzprozesse oder durch den Historikerstreit gewaltige gesellschaftliche Debatten losgetreten wurden. Selbiges ist in China bis heute nicht möglich. Es geht also nicht so sehr darum, nur auf die Zahl der Verurteilungen zu achten, Einzeltäter zu benennen und ein Geständnis von diesen zu erzwingen.
Im Rahmen der Debatten über transitional justice gibt es sehr gute Untersuchungen darüber, was für Folgen Tätergeständnisse auf eine Gesellschaft haben können, z.B. Forschungen über Chile, Brasilien und Südafrika. Diese Art von Tätergeständnissen verunsichern in vielfältiger Weise, weil ja auch nicht jeder Täter in gleicher Weise gesteht. Wenn wir uns etwa das Buch Scarlet Memorial von Zheng Yi anschauen, in dem die Gewaltexzesse der Kulturrevolution inklusive Kannibalismus in Guangxi beschrieben werden, so interviewte er jemanden, der ganz gleichgültig angab, menschliche Leber gegessen zu haben – und den Geschmack faktisch und nüchtern beschrieb – ohne sich zu entschuldigen. Das sind nach wie vor sehr verstörende Berichte, ohne Reue, ohne den Versuch, die Hinterbliebenen zu schonen oder das eigene Verhalten zu rechtfertigen.
Es gibt andere Möglichkeiten, mit diesen Themen umzugehen, aber ein Großteil des Problems ist, dass keine gesellschaftlichen Debatten geführt werden können und jede Gruppe sich in ihrem kleinen Diskurs einschließt und sich als Opfer fühlt. In vielerlei Hinsicht herrscht noch immer Unkenntnis darüber, was wirklich geschehen ist. Das Wichtige für China wäre, jetzt eine gesamtgesellschaftliche Debatte über diesen Zeitraum zu führen.
Klein: Ist es für Sie problematisch, dass sich alle als Opfer fühlen? Es ist gerade mit Hinblick auf die NS-Vergangenheit schwer vorstellbar, dass alle sagen: „Ich war ein Opfer der Kulturrevolution”.
Leese: Für mich persönlich ist das nicht problematisch, ich kann das nur konstatieren, wenn ich entsprechende Urkunden oder Akten einsehe. Problematisch ist das für die Personen, die damals als Zeitzeugen betroffen waren und in irgendeiner Form das Gefühl haben, dass ihre persönliche Geschichte, wie Frau Sausmikat es eindrucksvoll beschreibt, nicht übereinstimmt mit dem, was alle anderen Erzählungen über diesen Zeitraum schildern. Das Problem ist, dass der staatliche Steuerungsrahmen eine Pluralität von Diskursen oder auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Geschehenen verhindert. Es ist ja nicht so, dass die NS-Vergangenheit eine endgültige Klärung erfahren hätte, oder dass alle am Ende der gleichen Ansicht wären. Aber zumindest werden die Standpunkte klargemacht und über den Dissens kann man sich den Problemen besser annähern.
Nölle: Hat sich Ihrer Meinung nach noch irgendetwas von der Kulturrevolution in der VR-China gehalten? Wenn ja, was und warum? Stehen wir kurz vor einer neuen Kulturrevolution?
Leese: Wenn wir die Kulturrevolution als den Versuch definieren, eine andere Form politischer Repräsentation zu schaffen, indem man die Partei von außen kritisieren lässt, indem man das Beharrungsvermögen bestehender Strukturen aufbrechen will, dann kann man nicht davon sprechen, dass wir vor einer neuen Kulturrevolution stehen. Wenn man die Kulturrevolution primär als Machtkampf von unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb der Partei definiert, kann man einige Parallelen finden, aber das wäre viel zu kurz gegriffen. Machtkämpfe gab es immer, und nicht jeder Machtkampf hat diese Massendimension gefunden.
Das Spezifische an der Kulturrevolution ist ja, dass wirklich die Massen aufgerufen wurden, die Partei zu kritisieren und diese teilweise zerschlagen oder zumindest paralysiert wurde. Diese spezifische Form kann ich nicht erkennen, wenn ich mir heute anschaue, wie die Kritikverläufe z.B. hinsichtlich der Korruption in der Partei stattfinden. Das findet kontrolliert, über die Disziplin-Kontrollkommissionen statt, die es zur damaligen Zeit nicht gab. Damals gab es Zentrale Falluntersuchungsgruppen, die eher wie die Gestapo funktionierten und weniger kontrollierbar waren. Ein großes Problem war es daher später, wie man diese Fallakten zurück in den Parteibereich bekommen sollte. Das geschah ab dem 3. Plenum, nach welchem die Akten wieder an die Organisationsabteilung übergeben wurden. Vorher waren sie bei Wang Dongxing und den Sicherheitsorganen gelagert.
Ich sehe uns keineswegs vor einer neuen Kulturrevolution in dem Sinne, dass jetzt Massen gegen die Parteikader mobilisiert werden. Wenn man die Fernsehbilder sieht oder Kollegen und Bekannte in China befragt, hat es eher einen ritualisierten Charakter, wenn die Parteilinie wieder betont wird, die Kader auf einmal wieder mit aufgekrempelten Ärmeln vor einer Belegschaft stehen und um Feedback bitten. Es ist nicht so, dass sie Schandhüte aufgesetzt bekommen oder ähnliches. Das Ganze ist viel kontrollierter und der Stabilitätsdiskurs ist viel stärker als 1966/1967. Andere Aspekte könnte man diskutieren, inwiefern es beispielsweise Kontinuitäten in Sprache oder Kultur gibt.
Klein: Unter Berücksichtigung der aktuellen Politik in China, wie bewerten Sie das Thema Personenkult in China? Findet beim Staatschef und Parteivorsitzenden Xi Jinping, bisweilen auch als „Papa Xi“ tituliert, ein ähnlicher Personenkult wie bei Mao statt?
Leese: Hier müssten wir uns auf Kriterien einigen, was ein Personenkult überhaupt ist, also ob ein medialer Kult um Stars z.B. schon ein Personenkult ist, oder ob Führerkulte qualitativ anders sind. Die meisten Führerkulte des 20. Jahrhunderts sind, neben einer visuellen Herausstellung eines Individuums, zusätzlich von großen, organisierten Massenaufmärschen und von der Herstellung weitestgehend gleichförmiger Massenprodukte gekennzeichnet. Den letzten Punkt finden wir bei Stars auch. Aber die großen Massenornamente und Massenparaden sind für viele Führerkulte des 20. Jahrhunderts charakteristisch: Das Element der Organisation, das die Personen an bestimmte Orte bringt und als Masse für den Führer zu Huldigungsgesten bewegt, ist zentral. In der Kulturrevolution hatte der Führerkult dabei einen anderen, viel anarchischeren Charakter als noch in den 50er- und frühen 60er Jahren, als das Ganze eben viel geordneter abgelaufen ist. In der Kulturrevolution ist der Übergang zu einem modernen Starkult fließend. Es ging ja in erster Linie darum, dass man über diese Form, welche Joel Andreas „charismatische Mobilisierung“ nennt, versuchte, eine Machtbasis jenseits der Parteiorganisation zu schaffen. Es geht also darum, durch das Element der Massenbewegung die regulären Organisationsstrukturen der Partei auszuhebeln. Das kann ich in der Gegenwart nicht erkennen.
Der Kult um Mao erreichte seinen Höhepunkt zwischen 1966 und 1968, tatsächlich wurde er danach eingedämmt, weil er quasi-religiöse Aspekte anzunehmen begann, die auch Mao Zedong unangenehm waren. In seinem berühmten Brief an Jiang Qing schreibt er etwas wie: Das ist das einzige Mal, dass ich mich in einer Prinzipienentscheidung gebeugt habe, weil ich eigentlich gegen diese Art von Kulten bin, aber Lin Biao hat mich hier zum großen Dämonenkämpfer Zhong Kui aufgebaut, um den Revisionismus niederzuschlagen. Es ist typisch Mao, dass er so eine Art von „immodest modesty“ zeigt, wie Jan Plamper es genannt hat. Intern geht es ihm darum, seine Bescheidenheit hervorzuheben. Natürlich hätte er nach außen mehr gegen den Kult tun können. Aber in dem politischen Klima, das aus dem Kult resultierte, war es für die Gefolgschaft sicherer, Mao hochleben lassen, als ihn zu kritisieren. Dies führte dazu, dass kultisches Betragen erst nach dem 9. Parteitag reduziert wurde. In gewisser Weise ist der Personenkult auf einer Ebene immer noch präsent, die vor allem strukturell begründet ist. An den Aufstiegsmechanismen in der Partei hat sich nichts grundlegend verändert. Nach wie vor sind Patron-Klienten-Beziehungen zentral. Allerdings würde ich dieses Konzept gar nicht als fremd oder andersartig ansehen, dazu ist sie dem Klima in einem großen hierarchisch geführten Unternehmen viel zu ähnlich. Natürlich sind die Folgen anders, wenn Parteikader nicht das machen, was vom Führer gewollt ist, verglichen mit Kritik am Kurs eines Vorstandsvorsitzenden, aber prinzipiell ist das kein unbegreifliches Phänomen. Meine Kritik an vielen Arbeiten über den Kult ist, dass er oft in den Bereich des Irrationalen gerückt wird. Alle werden scheinbar verrückt und nachher wachen sie auf und alles ist wieder besser. Es gibt sicherlich eine Rauschphase in den mittleren und späten 1960er Jahren. Aber es ist keineswegs so, dass wir das Ganze nicht durch psychologische und organisatorische Ansätze verstehen könnten.
Gegenwärtig existieren diese Formen der innerparteilichen Beziehungen noch immer und werden derzeit exzessiver betrieben als etwa unter Hu Jintao. Nicht zuletzt am Beispiel von Internetliedern und -videos kann man das sehen. Allerdings ist es immer interessant, wenn man sich die Hintergründe eines spezifischen Phänomens etwas genauer anschaut. Nimmt man ein bestimmtes Lied wie z.B. „Bu zhidao zenme chenghu ni” („Wie soll ich dich nur ansprechen“?), so geht dies zurück auf eine Begegnung Xi Jinpings mit einer alten Dame der Miao (Miao-Minderheit in der Provinz Hunan), die er bei einem Besuch getroffen hat, und die ihn gefragt hat, „Wie soll ich Sie denn ansprechen?“ Daraus hat dann ein Propagandakader aus Hunan ein Lied voll Lobpreisung gedichtet, um sich Xi Jinping anzudienen. Es ist jedoch eigentlich ein strukturelles Problem: der Hunaner Partei-Propagandakader versuchte sich mit dem Lied an der Spitze lieb Kind zu machen, aber in diesem Fall hat es ihm nicht geholfen. Er wurde kurz darauf auf Grund von Korruptionsvorwürfen gestürzt. Nicht immer reichen Preisungen und Lob zum Aufstieg – hier sehe ich schon Unterschiede zur Kulturrevolution. Aber es bleibt interessant zu beobachten, dass nach rund drei Jahrzehnten, in denen der Führerkult offiziell verpönt war, nun offenbar nicht nur Xi Jinping selbst, sondern auch die restliche Parteispitze der Ansicht ist, dass die Parteieinheit durch eine starke Führerpersönlichkeit getragen und symbolisiert werden muss. Anfangs ist bei so einem Kult der Konsens in der Parteispitze entscheidend, um eine geschlossene Außendarstellung zu bewerkstelligen. Mao hat die daraus resultierende symbolische Macht in der Kulturrevolution gegen die Partei eingesetzt, aber das ist bei Xi Jinping derzeit nicht zu erkennen.
Redaktion: Christopher Kerscht, Christine Moll-Murata