Die gesellschaftlichen Unruhen in Lateinamerika, die noch vor einigen Wochen die Berichterstattung prägten, sind nicht verschwunden, nur weil sie hier keine mediale mehr Aufmerksamkeit erhalten. Im Gegenteil. Die bestehenden Konflikte sind nach wie vor akut und stehen in den lateinamerikanischen Gesellschaften ungebrochen auf der Agenda. Wir nehmen dies zum Anlass, unsere kleine Reihe mit Einschätzungen von Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern zur gegenwärtigen Lage in Lateinamerika fortzusetzen. Dieses Mal haben wir die Kulturhistorikerin Dr. Fabiola Arellano Cruz gefragt, die in Peru weilte, als sie unsere Fragen beantwortete. Bereits 2018 hatte sie uns ein Interview zu ihrer publizierten Dissertationsarbeit über die Darstellung politischer Gewalt in Peru und Chile gegeben.
"Die politische Lage in Peru ist alles anders als stabil"
L.I.S.A.: Frau Dr. Arellano Cruz, Sie forschen als Kulturhistorikerin zu nationalen Erinnerungskulturen in Lateinamerika, insbesondere in Chile und Peru. Zurzeit befinden Sie sich in Peru. In Europa hat man zuletzt viel über die Unruhen in Lateinamerika berichtet, vor allem in Chile und Bolivien, davor in Venezuela. Die Lage in Peru scheint gemessen an der hiesigen Berichterstattung ruhig und stabil zu sein. Können Sie diesen flüchtigen Eindruck bestätigen?
Dr. Arellano Cruz: Die soziale Lage in Peru, zumindest auf den Straßen und im Vergleich zu den Nachbarländern Chile, Bolivien und Kolumbien, ist tatsächlich einigermaßen ruhig. Ein Grund dafür könnte sein, dass die peruanische Staatsanwaltschaft in den letzten Jahren einen frontalen Kampf gegen die Korruption auf höchster politischer Ebene begonnen hat, die einige Erfolge mit sich gebracht hat. Diese Tatsache fungiert als Ventil für die Unzufriedenheit der Menschen hierzulande.
Nichtsdestotrotz ist die politische Lage alles anders als stabil. Am 30. September löste der Präsident Vizcarra das Parlament auf; eine drastische Maßnahme, die in der Verfassung unter bestimmten Umständen möglich ist. Auch wenn die Mehrheit der Peruaner und Peruanerinnen seine Entscheidung begrüßte, gab es auch oppositionelle Stimmen, die diese Maßnahme als „golpe de estado“ (Putsch) kritisierten und mit dem damaligen „Autoputsch“ unter Fujimori verglichen. Die Diskordanzen zwischen Legislative und Exekutive führten dazu, dass eine Mehrheit der Kongressabgeordneten die Parlamentsauflösung nicht akzeptieren wollte und eine eigene Präsidentin ernannte. Wir hatten also zeitgleich zwei Präsidenten. Kurz danach trat sie allerdings zurück. Neue Parlamentswahlen finden in diesem Januar statt.