Der Eurokommunismus galt in Zeiten des Kalten Krieges als dritter Weg zwischen dem Kommunismus sowjetischer Prägung und der Sozialdemokratie in der westlichen Welt. Tatsächlich konnte er als politische Strömung in mehreren westlichen Demokratien an Einfluss gewinnen - Parteien, die sich zum Eurokommunismus bekannten, erreichten in den Parlamenten Sitzanteile von strategischem Gewicht unter anderem für die jeweilige Regierungsbildung. So insbesondere in Italien, wo die Kommunistische Partei Italiens (PCI) zur zweitwichtigsten Partei nach den Christdemokraten aufsteigen konnte und es bis zur Regierungsbeteiligung schaffte. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Wegfall des sowjetischen Kommunismus verlor der Eurokommunismus seine Mittlerposition und verschwand weitgehend aus der politischen Arena. Der Historiker und Politikwissenschaftler Dr. Nikolas Dörr von der Universität Bremen hat die Geschichte des Eurokommunismus in seinem Dissertationsprojekt detailliert erforscht und dabei insbesondere die italienische Entwicklung untersucht. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Die Offenheit des Konzepts war ein zentraler Grund für seinen Erfolg"
L.I.S.A.: Herr Dr. Dörr, Sie haben sich im Rahmen Ihres Dissertationsprojekts mit dem italienischen Eurokommunismus von 1969-79 und seiner Bedeutung für Deutschland, die USA und die NATO beschäftigt. Nun liegt die Arbeit als Buch vor. Bevor wir im Einzelnen auf Ihre Studie zu sprechen kommen, was bedeutet der Begriff Eurokommunismus und was hat Sie dazu bewogen, gerade über diesen Zusammenhang zu schreiben?
Dr. Dörr: Eurokommunismus ist an sich ein ungenauer Begriff. Allgemein ausgedrückt bezeichnet „Eurokommunismus“ eine Reformbewegung in westlichen kommunistischen Parteien, die nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 entstand und Mitte bis Ende der 1970er Jahre ihren Höhepunkt erreichte. Eine exakte wissenschaftliche Definition des Eurokommunismus hat sich jedoch nie herausgebildet. Gleichzeitig war das ein zentraler Grund für seinen Erfolg. Die Offenheit des Konzepts führte dazu, dass jeder das hineininterpretieren konnte, was er oder sie wollte: von der Angst vor einer kommunistischen Täuschung bis zur Hoffnung auf eine demokratische Variante des Kommunismus. Dies führte zu einer massiven politischen, medialen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.
Betrachtet man die dem Eurokommunismus zugerechneten Parteien analytisch, lassen sich zwei grobe definitorische Faktoren ausmachen: Zum einen ist eine ausgeprägte Kritik am sowjetkommunistischen Modell zu nennen, zum anderen beinhaltete Eurokommunismus eine Hinwendung zu einem westlich-demokratischen Politikverständnis inklusive der Akzeptanz der Abwählbarkeit von Regierungen, der Abschaffung des Prinzips des „Demokratischen Zentralismus“ und der Einführung innerparteilicher Minderheitenrechte, der Koalitionsfähigkeit mit Parteien anderer ideologischer Ausrichtung u.a.. In der Praxis gab es aber nur wenige kommunistische Parteien, die diese beiden Kriterien über einen längeren Zeitraum erfüllten. Die mit Abstand größte und wichtigste unter ihnen war die Kommunistische Partei Italiens (Partito Comunista Italiano – PCI).
Mich interessierte vor allem der Eurokommunismus als Wahrnehmungsphänomen. Eine der zentralen Fragen der Arbeit ist daher, warum ein- und dasselbe Phänomen, in meinem Fall der italienische Eurokommunismus, auf der einen Seite so starke Ängste, in einigen Fällen geradezu Panik, auslösen konnte, während er auf der anderen Seite positiv rezipiert und mit großen Hoffnungen verbunden wurde. Darüber hinaus hat mich das Thema fasziniert, weil es die klassische Ost-West-Logik des Kalten Krieges aufbricht. Eurokommunisten, die sich in einem wichtigen NATO- und EG-Mitgliedsstaat von der Sowjetunion lösen wollen und an der Regierung beteiligt werden wollen, stellen die klassische Kalte Kriegs-Logik auf den Kopf. Entsprechend kompliziert und verwirrend war es für die Staaten des westlichen Bündnisses (und auch für die Staaten des Ostblocks) außen- und sicherheitspolitische Antworten auf diese Herausforderung zu finden.