Mit der Archäologie werden gewöhnlich Disziplinen wie die Ur- und Frühgeschichte oder aber die Klassische Archäologie, die sich beispielsweise mit dem antiken Rom beschäftigt, assoziiert. Weniger populär ist hingegen die moderne Archäologie. Prof. Dr. Reinhard Bernbeck ist Professor für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität Berlin, außerdem leitet er Ausgrabungen an Orten des 20. Jahrhunderts. Ein Beispiel für solche Projekte sind die Ausgrabungen auf dem Tempelhofer Flugfeld im Jahr 2012 und 2013. In seiner Publikation "Materielle Spuren des Nationalsozialistischen Terrors" zeigt er anhand dieses Beispiels die Möglichkeiten einer "Archäologie der Moderne" auf. Im Interview haben wir daher Fragen nach dem Stand der Disziplin, konkreten Funden und Erkenntnisgewinnen gefragt.
"Historische Ungerechtigkeiten zwingen geradezu zum genauen Hinsehen"
L.I.S.A.: Typischerweise gelten Archäologen als Experten für die Antike, Sie sind Professor am Institut für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität Berlin – Forschungsgegenstand ist somit der Alte Vordere Orient. Wie schaffen Sie es diese mit dem Forschungsfeld der modernen Archäologie zu verbinden?
Prof. Bernbeck: Ich habe zwar Vorderasiatische Archäologie studiert, dann jedoch mittels eines Stipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung ein Jahr in den USA verbracht und bin dort sozusagen akademisch “hängen geblieben” mit einer Professur. In den USA wird Archäologie traditionell als eine Subdisziplin der Anthropology betrachtet, zusammen mit Kulturanthropologie (der Ethnologie nahestehend), Linguistik und physischer/biologischer Anthropologie. Interdisziplinarität spielt in diesen Fächern eine sehr viel größere Rolle als in Deutschland, so dass ich neben meinem kleinen Orchideenfach der Vorderasiatischen Archäologie allgemeine Kurse zu “Current Social Theories” usw. unterrichtet habe. Das ganze Fachverständnis ist dort stärker an theoretischen Ansätzen ausgerichtet als an kulturhistorischen Spezifika. Mich hatten schon immer Fragen nach der Geschichte der Ideologie, nach der Entstehung und Aufrechterhaltung von Hierarchien, nach struktureller und direkter Gewalt in vergangenen Gesellschaften interessiert. Solche Fragen lassen sich sowohl für den alten Orient als auch für die Moderne stellen und je spezifisch beantworten. Zugänge zu solchen Themen sind nicht aus der Archäologie oder auch der Anthropologie zu gewinnen, sondern nur aus einem breiten Studium allgemeiner Literatur aus Bereichen wie Philosophie, Soziologie, generellen Kulturwissenschaften, politischer Ökonomie bis hin zur vergleichenden Literaturwissenschaft.
Dieser Fokus auf den theoretisch-allgemeinen Aspekten von Wissenschaft darf allerdings nicht darin enden, dass die grundlegende Faktizität des Historischen in ihrem Detail vernachlässigt wird. Ganz im Gegenteil meine ich, dass ein anerkennungstheoretisch fundierter Zugang zur Vergangenheit, wie ich ihn zu verfolgen versuche, auf dem Kleinteiligen des Geschichtlichen insistieren muss. Historische Ungerechtigkeiten zwingen geradezu zum genauen Hinsehen.