Die Frage "Was wäre wenn" ermöglicht neue Blickwinkel auf die Regionalgeschichte, wie die der bayerischen Region Oberpfalz. Mit den Methoden der Quellenkritik und Alternative History analysiert und zeigt der Beitrag auf, dass regionale Alternative History Potenziale bei der Verflechtung zwischen regionalen historischen Ereignissen und überregionaler Geschichte, bei der Wiederentdeckung "verlorener" Teile der regionalen Geschichte, bei der Verbesserung des Verständnisses von Entscheidungen der Vergangenheit sowie zur Klärung der Möglichkeiten für die Gegenwart und Zukunft hat. Der Artikel hebt darüber hinaus hervor, dass eine weitere und detaillierte Erforschung von regionalen historischen Entwicklungen erforderlich ist, um plausible alternative Szenarien für diese vier Perspektiven zu schaffen.
1. Einführung
Die Oberpfalz ist eine ländliche Region in Ostbayern und einer der sieben Bezirke Bayerns. Die in Bild 1 gezeigte Karte veranschaulicht die Lage der Oberpfalz in Deutschland und zeigt die in diesem Beitrag erwähnten Städte.
Der Bezirk kann auf eine lange Geschichte zurückblicken, dennoch sind viele regionale historische Ereignisse weitgehend unbekannt. Während zum Beispiel relativ gut bekannt ist, dass Regensburg 1245 eine freie und Reichsstadt wurde, sind zahlreiche Entwicklungen, die diesen Status bis 1810 infrage stellten, relativ unbekannt. Die Vergangenheit der Oberpfalz ist in der geschichtswissenschaftlichen Literatur vergleichsweise selten thematisiert worden. Die meisten Arbeiten befassen sich mit der Regionalgeschichte der jeweiligen Städte und Gemeinden in Form von Chroniken, Zeitungsartikeln oder Zeitzeugeninterviews. Diese Form macht die regionale Geschichte für ein Laienpublikum außerhalb der jeweiligen Städte und Gemeinden relativ unbekannt oder kaum nachvollziehbar [1].
Die Forschungsergebnisse des Ankerpunkte Blogs füllen diese Lücke, indem sie mit Methoden der Alternative History die vergleichsweise selten beachtete Regionalgeschichte in einer breiten Forschungsperspektive präsentiert. Der Blog ist ein privates Forschungsprojekt, das im März 2020 als Eigeninitiative gestartet wurde [2]. Ziel des Projektes ist es, Hintergründe der "realen", d.h. faktischen Geschichte zu erläutern, die das Potenzial für Alternative History Szenarien haben, Alternative History Literatur, wie z.B. "Vaterland" von Robert Harris [3] zu rezensieren, Alternative History Szenarien zu entwickeln und literarische Alternativweltgeschichten zu erzählen. Der Blog nutzt die Alternative History Methodik, um mögliche alternative Verläufe der historischen Entwicklung zu veranschaulichen und auf ihre Plausibilität zu prüfen [4].
Durch die Analyse der Zugriffszahlen auf den Ankerpunkte Blog (insgesamt 13.622 Zugriffe zwischen April 2020 und Januar 2022) zeigt sich das große Interesse an der Regionalgeschichte am Beispiel des Artikels "17 Punkte, an denen die Geschichte der Oberpfalz und Regensburgs anders gelaufen wäre". Dieser Blogartikel wurde erstmals im September 2020 veröffentlicht und machte bis Januar 2022 rund 36 Prozent aller Seitenaufrufe aus [5]. Ausgehend von diesem Artikel wurden auf der internationalen Konferenz "WhatIf'21" vier mögliche Perspektiven der Alternative History für die Regionalgeschichte vorgestellt [6].
- Alternative History kann die Verflechtung zwischen regionalen historischen Ereignissen und den Folgen für die Geschichte außerhalb der Region aufzeigen.
- Alternative History kann es ermöglichen, "verlorene" Teile der regionalen Geschichte wiederzuentdecken.
- Alternative History kann das Verständnis für Entscheidungen der Vergangenheit verbessern.
- Alternative History kann Möglichkeiten für die Gegenwart und in der Zukunft aufzeigen.
Im Anschluss an die "WhatIf'21"-Konferenz wurden in diesem Beitrag diese Perspektiven am Beispiel der Oberpfalz näher analysiert. Zunächst wird der historische Hintergrund der Region erläutert sowie die Methoden der Quellenkritik und der Alternative History in der deutschen Geschichtsschreibung. Danach werden die vier Perspektiven anhand je eines Beispiels in den Unterkapiteln bei Ergebnisse vorgestellt, gefolgt von den Kapiteln "Fazit und weitere Perspektiven" sowie "Round Table Insight".
2. Hintergrund
Die Oberpfalz hat mit 1,1 Millionen Einwohnern die zweitkleinste Bevölkerung der sieben Bezirke des Freistaates Bayern und ist vor allem durch land- und forstwirtschaftliche Flächen geprägt. Regensburg ist die Hauptstadt und die einzige Großstadt mit über 150.000 Einwohnern [7]. Dieser regionale Schwerpunkt zeigt sich auch in der über die Region hinaus bekannten Regionalgeschichte der Oberpfalz. Regensburg ist wegen seiner langen Geschichte bekannt, da die Römer es 179 n. Chr. gründeten. Von 1663 bis 1806 war es Sitz des Immerwährenden Reichstags des Heiligen Römischen Reiches, der institutionellen Versammlung der Reichsstände [8].
Die Oberpfalz hat jedoch mehr historisch bedeutende Ereignisse vorzuweisen, vor allem in den kleineren Städten und Gemeinden nördlich von Regensburg. Diese weisen ebenfalls eine vielfältige und lange Geschichte auf, die mehrheitlich seit dem frühen Mittelalter um das Jahr 550 belegt ist. Über weite Strecken ihrer Geschichte zeigt die Oberpfalz eine kontinuierliche territoriale Zersplitterung [9].
Nach der Teilung des bayerischen Herzogtums mit dem Hausvertrag von Pavia 1329 wurden die Territorien des späteren Bezirks zum Beispiel auf vier verschiedene bayerische Teilherzogtümer aufgeteilt. Darüber hinaus umfasste die damalige territoriale Struktur weitere weltliche Gebiete, wie die der Pfalzgrafen bei Rhein, kirchliche Territorien, wie die des Hochstifts Regensburg, sowie die freie und Reichsstadt Regensburg [10]. Beispielhaft, wenn auch vereinfacht, ist die Zersplitterung in Bild 2 dargestellt, anhand einer Karte von 1496. Neben der Kurpfalz (grau) gibt es nur noch zwei bayerische Herzogtümer (Bayern-München: ocker, Bayern-Landshut: orange). Der gelbe Bereich zeigt verschiedene kirchliche und reichsstädtische Territorien.
Diese Zersplitterung in verschiedene Herrschaftsverhältnisse war teilweise nachteilig. Im Zeitalter der Reformation wechselten angrenzende und ineinander verflochtene Territorien mehrfach die Konfessionen zwischen Katholiken, Protestanten und Calvinisten, was zu Vertreibungen und Elitenflucht aus konfessionellen Gründen führte [11]. Im Gegensatz dazu war die Kleinteiligkeit der Territorien vorteilhaft für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung von einigen der relativ kleinen Städte. Die Blütezeit von Amberg erstreckte sich zum Beispiel bis ins 16. Jahrhundert, als es eine wichtige Stellung als "Hauptstadt" der regionalen Besitzungen der wohlhabenden Pfalzgrafen zu Rhein einnahm, die als Kurfürsten den Kaiser wählten und zu den sieben ranghöchsten Adligen des Reiches gehörten. So wurden ihre jeweiligen Thronfolger mit den Regierungsgeschäften in Amberg vertraut gemacht [12]. Aus dem Namen "Obere Pfalz" für diese Besitzungen leitete die bayerische Regierung auch den Namen für den gesamten Bezirk ab. Diese im 19. Jahrhundert gegründete Verwaltungseinheit war vor allem von Land- und Forstwirtschaft geprägt. Die Lage als peripheres Grenzgebiet zur heutigen Tschechischen Republik führte vor allem während des "Eisernen Vorhangs" zu wirtschaftlichen Problemen [13]. Nach dem Ende dieser geschlossenen Grenze im Jahr 1990 erholte sich die Wirtschaft in Ostbayern. Aktuell (2022) gehört die Oberpfalz zu den wirtschaftlich prosperierenden Regionen Bayerns [14].
3. Material und Methoden
Im Gegensatz dazu war die Geschichte der Oberpfalz in Bayern selten Gegenstand der Forschung oder in der überregionalen Öffentlichkeit. Nur vergleichsweise wenig aktuelle Forschungsliteratur befasst sich mit seiner Regionalgeschichte. Zahlreiche Publikationen stammen von lokalen Chronisten oder bestehen aus Interviews mit Zeitzeugen, deren geschichtswissenschaftlicher Zweck oft unklar ist [15].
Daher ist die Quellenkritik eine von zwei angewandten Methoden in diesem Artikel. Deren Ziel ist es, historische Erkenntnisse zu gewinnen, indem die Umstände identifiziert werden, unter denen eine historische Quelle geschaffen wurde. Die Universität Regensburg gliedert die Methodik in zwei Teile: a) Es erfolgt eine formelle Prüfung der äußeren Textform (wann, wo und wie der Text geschrieben wurde) und b) eine Überprüfung des Inhalts auf Glaubwürdigkeit hinsichtlich möglicher Tendenzen [16]. Zum Beispiel fiel in einer Sammlung von Zeitzeugenberichten über das Ende des Zweiten Weltkriegs in der Oberpfalz auf, dass regionale Nationalsozialisten kaum erwähnt wurden [17].
Die zweite Methode dieses Artikels ist die Alternative History, bei der alternative Entwicklungsverläufe der Geschichte aufgezeigt und auf Plausibilität geprüft werden. In der deutschen Geschichtswissenschaft ist diese Methodik umstritten. Der Althistoriker Alexander Demandt (1937) rechtfertigte in den 1980er Jahren die Verwendung der Methodik damit, dass sie ein Mittel sei, um Standpunkte in der Entscheidungsfindung bei vergangenen Ereignissen gänzlich zu verstehen. Bis in die 2010er Jahre blieb diese Argumentation eine Außenseiterposition. Sie wurde von weiten Teilen der deutschen Historiker vehement als unwissenschaftlich abgelehnt, zum Beispiel durch den Wirtschafts- und Sozialhistoriker Hubert Kiesewetter (1939). Bisher ist Demandt der einzige renommierte Forscher geblieben, der Alternative History als Methodik innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft etabliert hat und gleichzeitig außerhalb der Geschichtswissenschaft in Teilen der Öffentlichkeit bekannt ist. Für deren Verwendung formulierte er drei Voraussetzungen [18]:
- "Realitätsferne Alternativen sind unrealistisch"
- "Die Ereignisse sind unterschiedlich determiniert"
- "Unwahrscheinliche Ereignisse stehen vereinzelt"
Zusammenfassend sollten Historiker in Alternative History Szenarien auf die Fakten und Grundlagen der "realen" Geschichte achten. Insbesondere Spekulationen oder Wunschdenken gelten als unwissenschaftlich. Demandt führte auch die folgenden Grundregeln für entsprechende Szenarien ein [19]:
- Minimaler Eingriff in die Geschichte: Das Szenario sollte nur ein Ereignis in der historischen Entwicklung verändern, um Nachvollziehbarkeit über die wissenschaftliche Spekulation zu gewährleisten.
- Selbstbeschränkung, was den Zeitraum angeht: Nur eine kurze Zeitspanne nach der Veränderung wird erforscht, um nicht in unbelegbare Spekulationen abzudriften.
- Selbstkritik und Transparenz bei der Perspektive wahren: Die Standards historischer Wissenschaft müssen gesichert bleiben, damit die Szenarien zum Verständnis sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wissenschaft beitragen.
Darüber hinaus ermutigte Demandt Historiker, Alternative History nicht nur für Standardszenarien wie "Was wäre, wenn Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte?" zu verwenden, die aus zahlreichen literarischen Werken wie "Vaterland" bekannt sind [20]. Sie sollten stattdessen die Methodik nutzen, um wenig bekannte Ereignisse der Geschichte zu erforschen [21]. Der Ankerpunkte Blog folgte dieser Aufforderung mit einem Hintergrundbeitrag über die Alternative History der Oberpfalz [22]. Die hohen Zugriffszahlen und viele positive Reaktionen auf diesen Beitrag zeigten, dass Alternative History großes Potenzial auf regionaler Ebene hat [23].
4. Ergebnisse
Dieses Potenzial zeigt sich in zahlreichen neuen Perspektiven auf die Oberpfälzische Regionalgeschichte durch Alternative History. Der Artikel analysiert diese potenziellen Perspektiven in den folgenden Abschnitten mit jeweils einer konkreten Fallstudie. Diese Perspektiven konzentrieren sich auf die Aspekte: Verflechtung von regionalen und überregionalen historischen Ereignissen, Wiederentdeckung "verlorener" Teile der regionalen Geschichte, Verbesserung des Verständnisses von vergangenen Entscheidungen und Klärung von Möglichkeiten für Gegenwart und Zukunft.
4.1 Alternative History und Oberpfalz I: Verflechtung von regionalen und überregionalen historischen Ereignissen
Für die potenzielle Perspektive, die Alternative History in der Oberpfalz in Bezug auf Verflechtung von regionalen und überregionalen historischen Ereignissen zeigen kann, konzentrieren wir uns auf die Fallstudie in Tabelle 1.
Die Geschichte der Oberpfalz zeigt zahlreiche Verflechtungen zwischen Ereignissen, die sich auf die lokale Ebene zu beschränken scheinen. 1245 erlangte die Stadt Regensburg die Reichsunmittelbarkeit und verließ als freie und Reichsstadt offiziell den Herrschaftsbereich des bayerischen Herzogtums [24]. Um die enge Verflechtung zwischen der Geschichte Regensburgs sowie der bayerischen und der deutschen Geschichte zu beweisen, lautet die Was-wäre-wenn-Frage: Was wäre, wenn die Stadt nicht die Reichsunmittelbarkeit erhalten hätte?
Diese Hypothese ist für den Fall angebracht, denn mit der Reichsunmittelbarkeit kulminierte eine Entwicklung, die nicht nur die Geschichte Regensburgs, sondern auch die bayerische und deutsche Geschichte im Mittelalter betraf. Diese Entwicklung bestand in einem langfristigen Machtkampf zwischen den Regensburger Patriziern, den bayerischen Herzögen, den römisch-deutschen Königen und den Bischöfen von Regensburg, die um die Herrschaftsrechte innerhalb der Stadt rangen. Grund für den Konflikt war die geografische Lage Regensburgs im Mittelalter: Es war die Hauptresidenz der bayerischen Herzöge sowie aufgrund des wachsenden Handels über die Donau und nach Böhmen eine der größten wirtschaftlichen Metropolen in Süddeutschland. Zeugnisse des vergangenen Reichtums sind noch heute sichtbar: Im Mittelalter war die Steinerne Brücke die einzige feste Überquerung der Donau zwischen Ulm und Wien. Darüber hinaus prägt der Dom immer noch das Stadtbild (Bild 3) [25].
Wären die Patrizier 1245 gescheitert, wäre die Stadt im Besitz des bayerischen Herzogtums geblieben. Dieses Szenario hätte dem Machtkampf andere Einflussfaktoren gegeben. Erstens hätten die bayerischen Herzöge weniger Grund gehabt, "ihre Hauptstadt" in Wirtschaftskriege zu verwickeln oder die Städte rund um Regensburg als wirtschaftliche Konkurrenten zu fördern, wie sie es in der Realität mit der freien und Reichsstadt taten [26]. Zweitens hätte die Stadt nicht unter der mangelnden Versorgung auf der kleinen Fläche der Reichsstadt gelitten. Stattdessen hätte sie weiterhin von Verbindungen zu den Orten im Norden profitiert, wo die Städte Amberg und Sulzbach-Rosenberg wegen ihrer Erzgruben und Hammermühlen entlang der Flüsse als "Ruhrgebiet des Mittelalters" galten [27]. Drittens hätte Regensburg als bayerische "Hauptstadt" nur geringe Chancen gehabt, als Standort für Reichstage ausgewählt zu werden. Als freie und Reichsstadt stand Regensburg offiziell unter der direkten Herrschaft des Kaisers, ein Status, der neben seiner Lage an der Donau der Hauptgrund dafür war, dass die Stadt Sitz des Immerwährenden Reichstags wurde [28].
Die möglichen Alternativ History Szenarien der Regensburger Regionalgeschichte können die Verbindungen und Einflussfaktoren aufzeigen, die sie mit dem historischen Hintergrund Bayerns und Deutschlands verflechten.
Die weitere Forschung muss sich auf zwei Punkte konzentrieren, um ein plausibles Alternative History Szenario von 1245 zu entwickeln: Forscher müssen den Machtkampf davor besser verstehen, indem sie die verschiedenen Herrschaftsrechte der verschiedenen Gruppen innerhalb der Stadt betrachten. Darüber hinaus müssen sie die Entwicklung der verschiedenen Residenzen analysieren, die von den bayerischen Herzögen nach dem Verlust der Stadt Regensburg gefördert wurden, um die historische Entwicklung Regensburgs als "Hauptstadt" des bayerischen Herzogtums genau einzuschätzen zu können.
4.2 Alternative History und Oberpfalz II: Wiederentdeckung "verlorener" Teile der regionalen Geschichte
Die zweite Fallstudie befasst sich damit, wie es Alternative History ermöglichen kann, "verlorene" Teile der regionalen Geschichte wiederzuentdecken. Die Zusammenfassung der wichtigsten Grundlagen für die Diskussion ist in Tabelle 2 dargestellt.
Die geografische Lage der Oberpfalz zeigt, dass ihre Geschichte mit der heutigen Tschechischen Republik eng verflochten ist. Im Gegensatz dazu hat das historische Gedächtnis der meisten Menschen in der Oberpfalz "vergessen", dass diese Verflechtung in der Geschichte noch enger war, als die historisch relativ stabile Grenze vermuten lässt. 1373 tauschte Kaiser Karl IV. (1316-1378) den größten Teil seines Territoriums "Neuböhmen" gegen die Herrschaft im Kurfürstentum Brandenburg. Seit 1353 hatte er allmählich diese Gebiete in der heutigen westlichen und nördlichen Oberpfalz erworben [29].
Um zu verdeutlichen, dass dies ein weitgehend vergessener, aber wichtiger Teil der Regionalgeschichte ist, wäre die Frage: Was wäre, wenn die Pläne für Neuböhmen weiter verfolgt worden wären?
Dieser Fall ist aus drei Gründen geeignet. Dieses Gebiet stellte einen strategisch wichtigen Landkorridor dar, der das Königreich Böhmen mit den Zentren des Heiligen Römischen Reiches, wie der Stadt Nürnberg, verband [30]. Zusätzlich traf Karl IV. Entscheidungen, die auf das Ziel hindeuteten, diese Region dauerhaft an die Krone von Böhmen zu binden. Zum Beispiel ließ er Neuböhmen durch eine permanente Residenz im heutigen Sulzbach-Rosenberg regieren, gewährte den verschiedenen Gebieten Privilegien und baute die Handelswege aus. Wie Bild 4 in Rot zeigt, konzentrierte sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in einem relativ begrenzten Gebiet zwischen Böhmen und Nürnberg eine relativ hohe Anzahl von Stützpunkten Karls IV. Und die Beibehaltung eines kleinen Territoriums im Westen der Oberpfalz im Rahmen des Austauschs mit dem Kurfürstentum Brandenburg zeigte, dass Neuböhmen weiterhin eine strategische Option war [31].
Hätte Karl IV. diese Pläne fortgesetzt, scheint für das Gebiet eine Entwicklung wie im Egerland realistisch. Diese Region um die heutige tschechische Stadt Cheb (Eger in deutscher Sprache) war im frühen Mittelalter von einer Herrschaft besiedelt worden, die große Teile der Oberpfalz umfasste. Sie entwickelte sich zu einem strategisch wichtigen Gebiet unter der Herrschaft der Staufer-Dynastie. Nach deren Fall im Jahre 1250 strebten die böhmischen Könige eine Integration dieser Region in ihren Herrschaftsbereich an. Als sie dieses Ziel im Jahre 1322 erreichten, war das Gebiet noch nicht vollständig in das Königreich Böhmen integriert. Tatsächlich behielt das deutschsprachige Egerland über die Jahrhunderte eine eigenständige Rechtsposition, die sich erst Schritt für Schritt auflöste. Erst 1782 wurde zum Beispiel seine kirchliche Zugehörigkeit zum Bistum Regensburg aufgegeben [32]. Im Gegensatz zum Egerland scheiterten die Pläne für Neuböhmen und die böhmischen Könige hatten keine Position inne, die eine Wiederaufnahme dieser Pläne erlaubte. Denn das verbleibende Gebiet und die strategische Option einer weiteren territorialen Expansion gingen in Konflikten unter dem Nachfolger Karls IV. verloren. Die Grenze zwischen dem ehemaligen Neuböhmen und dem Egerland blieb so jahrhundertelang stabil [33].
Alternative History kann wiederentdecken, dass Neuböhmen nicht nur eine kleine, vergessene Episode in der Regionalgeschichte war, sondern im 14. Jahrhundert eine wichtige strategische Bedeutung hatte. Es ist ein bedeutender Meilenstein in der historischen Entwicklung der heutigen Oberpfalz und Tschechiens.
Zur weiteren Klärung des Alternative History Szenarios ist eine genauere Analyse der verschiedenen Regionalmächte in der Oberpfalz des 14. Jahrhunderts notwendig, um nachzuvollziehen, wie die einzelnen Gebiete Neuböhmens erworben wurden und wieder verloren gingen. Ebenso kann nur ein Vergleich mit anderen Territorien unter der Herrschaft des Königreichs Böhmens Einblicke in die Mechanismen geben, durch die diese Gebiete jeweils in dessen Herrschaft integriert wurden.
4.3 Alternative History und Oberpfalz III: Verbesserung des Verständnisses von vergangenen Entscheidungen
Die dritte Fallstudie befasst sich mit der Frage, wie Alternative History es ermöglichen kann, vergangene Entscheidungen besser zu verstehen. Die Gründe für die Diskussion dieser Perspektive sind in Tabelle 3 dargestellt. Denn Alternative History kann Klarheit über vergangene Entscheidungen auf regionaler Ebene bringen, die für die Menschen der jeweiligen Gegenwart unverständlich sind.
Die Fallstudie ist die umstrittene Entwicklung der "autofreundlichen Altstadt" in der Stadt Regensburg bis zum Ende dieser Planungen im Jahr 1978 [34].
Die Regensburger Altstadt hatte den Zweiten Weltkrieg ohne nennenswerte Schäden überstanden. Sie galt damals aber als "Schandfleck" und war dringend sanierungsbedürftig, da es vielen baufälligen Wohnungen an sanitärer Grundausstattung mangelte [35]. Daher empfahlen verschiedene Stadtplaner nach dem Zweiten Weltkrieg den Abriss von Altbauten, um Platz für den zunehmenden Verkehr sowie neue Wohngebäude mit sanitären Grundstandards zu schaffen und sich zu einer "autofreundlichen Altstadt" zu entwickeln. Im Mittelpunkt der Stadtentwicklung stand daher ein ausgebautes Straßennetz mit vielen Parkplätzen, um die Altstadt schnell erreichbar zu machen und die Stadt als Einkaufs- und Verwaltungszentrum zu erhalten [36].
Die Fragestellung wäre: Was wäre, wenn die Stadt diese Pläne nach 1978 weiter umgesetzt hätte?
Sie ist angemessen, weil die Stadtverwaltung konkrete Pläne für diese Veränderungen hatte: Neben einem inneren und äußeren Straßenring sahen diese eine Nord-Süd- und Ost-West-Achse im heutigen Welterbe vor, mit einer vier- bis sechsspurigen Autobahnbrücke durch die Altstadt. Im Vorgriff auf die Planungen waren bereits Abrisse in der Altstadt erfolgt [37]. In diesem Muster wird das Ergebnis des Alternative History Szenarios deutlich. Die Straßenverkehrsplanung wird weitgehend umgesetzt. Die Altstadt verliert ihren mittelalterlichen Charakter, erhält aber die moderne Infrastruktur der 1970er Jahre deutlich schneller. Die langfristigen Ergebnisse sind weniger klar, da die Entwicklung der Altstadt die gesamte soziale und wirtschaftliche Entwicklung von Regensburg beeinflusst und umgekehrt. Es ist aber klar: Regensburg würde nicht Welterbe wegen seines fast komplett erhaltenen mittelalterlichen Ensembles in der Altstadt werden. Eine Entwicklung, die diesen Stadtteil zu einem touristischen Hotspot und zu einem der heutigen Premium-Wohnorte in Regensburg macht. Im Gegensatz zu diesem Szenario begünstigten historische Entwicklungen in den 1970er Jahren eine Neuausrichtung der Verkehrsplanung. Die Stadt erhielt mehr Mittel für die Sanierung denkmalgeschützter Gebäude und hartnäckiger Widerstand verschiedener Bürgerinitiativen veranlasste viele Regensburger, Relevanz und Wahrnehmung der historischen Altstadt zu überdenken. Diese Entwicklung führte 1974 zu einer Abschwächung des bisherigen Straßenverkehrsplans. 1978 stoppte die Stadtverwaltung den Abriss und die Neubauten. Heute ist die sanierte Altstadt als Welterbe kein Einkaufs- und Verwaltungsstandort mehr, sondern ein Gastronomie- und Unterhaltungszentrum mit hohen Preisen und Mieten [38].
Dieses Alternative History Szenario verbessert das Verständnis für vergangene Entscheidungen der "autofreundlichen Altstadt". Es zeigt auch, dass eine andere Entwicklung der Altstadt gravierende Nachteile für die Stadtentwicklung, insbesondere für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung gehabt hätte. Zur Konkretisierung des Szenarios eines "autofreundlichen Regensburgs" muss die weitere Forschung die Situation in Städten der gleichen Größe wie Regensburg in den 1970er Jahren und die entsprechenden Verkehrspläne nach dem Krieg analyisieren. Mit diesen Daten könnten die möglichen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsergebnisse für die gesamte Stadt besser beschrieben werden.
4.4 Alternative History und Oberpfalz IV: Klärung von Möglichkeiten für Gegenwart und Zukunft
Die abschließende Fallstudie befasst sich damit, wie Alternative History Möglichkeiten für Gegenwart und Zukunft klären kann. Die wichtigsten Punkte für die Analyse der Fallstudie sind in Tabelle 4 dargestellt.
Es wurde deutlich, dass Alternative History Entscheidungen der Vergangenheit transparent machen kann, wie sie sich auf die Gegenwart auswirken und welche Möglichkeiten sie für die Zukunft bieten. Der Fall ist die Gründung der heutigen Ostbayerischen Technischen Hochschule (OTH) Amberg-Weiden [39]. Vor der Entscheidungsfindung war der Standort einer Fachhochschule in der strukturschwachen Randregion der Oberpfalz umstritten. Diese Tatsache wird durch zahlreiche Anekdoten und Legenden in der Regionalgeschichte unterstrichen, was aber auch die geschichtswissenschaftliche Bewertung erschwerte. Unbestritten war, dass sich die beiden Städte Amberg und Weiden zunächst einzeln beworben hatten. Danach wurde die politische Diskussion von mehreren Optionen dominiert. Inwieweit diese realistisch waren, wird unterschiedlich bewertet, zum Beispiel die Rolle eines vorgetäuschten Herzinfarkts eines bayerischen Ministers, um Weiden als einen Hochschulstandort durchzusetzen [40].
In diesem Zusammenhang ist es notwendig, über die Frage nachzudenken: Was wäre passiert, wenn die OTH Amberg-Weiden nicht oder anders gegründet worden wäre?
Diese Frage ist angemessen, weil verschiedene Optionen diskutiert wurden, wie in den Medien die politische Drohung, aufgrund der Rivalität zwischen den beiden Städten keine weitere Hochschule in der Region aufzubauen und stattdessen die Fachhochschule in Regensburg weiter auszubauen [41]. Ein Alternative History Szenario hängt von der möglichen Entscheidung ab: keine Fachhochschule für Amberg und Weiden oder nur eine Fachhochschule für eine der beiden Städte. Eine Analyse der zweiten Option führt zum Beispiel Regensburgs. 1962 hatte der Bayerische Landtag beschlossen, die Universität Regensburg zu gründen, um die Begabungsreserven in Ostbayern zu fördern. Die enormen Impulse aus Forschung und Lehre trugen nachhaltig zur Ansiedlung vieler Unternehmen bei und legten den Grundstein für den heutigen Metropolenstatus Regensburgs [42]. Eine ähnliche Entwicklung in kleinerem Maßstab wäre auch für die im Vergleich kleineren Städte Amberg oder Weiden möglich gewesen. Nach den Debatten in der "realen" Geschichte einigte sich die Bayerische Staatsregierung aber auf den Kompromiss eines Doppelstandorts, sodass sowohl die mittlere als auch die nördliche Oberpfalz von den strukturellen Impulsen des neuen Hochschulstandorts profitierten [43]. Im Jahr 2021 hatte die OTH Amberg-Weiden 3.596 Studierende, 93 Professoren und 408 Mitarbeitende, die in 58 Forschungsprojekten mit der regionalen Wirtschaft zusammenarbeiten. Diese Impulse verteilen sich allerdings auf zwei Standorte und betreffen damit eine große Fläche in der Region [44].
Basierend auf den Entscheidungen für die Hochschulstandorte in der Oberpfalz kann Alternative History verschiedene Szenarien der Verteilung oder der Nicht-Existenz der OTH Amberg-Weiden untersuchen und aufzeigen, welche Möglichkeiten die aktuelle Politik in Bezug auf regionalen Strukturen in der Zukunft hat. Für den Aufbau eines entsprechend detaillierten Alternative History Szenarios sollten die Grundlagen anderer Fachhochschulen in den ländlichen Regionen Bayerns analysiert werden. Eine gute Vergleichbarkeit bieten Hochschulgründungen in den 1990er Jahren mit ähnlichen Ausgangsbedingungen (Deggendorf, Hof und Aschaffenburg) oder länger existierende Hochschulen und deren Einfluss auf die Strukturen ihrer jeweiligen Region (Coburg, Kempten) [45].
5. Fazit und weitere Perspektiven
Die bisherigen Fallstudien zeigen, dass Alternative History neue Forschungsmöglichkeiten für Historiker bietet und neue Möglichkeiten eröffnet, regionale Geschichte an interessierte Laien zu vermitteln. "Was wäre, wenn Regensburg 1245 nicht die Reichsunmittelbarkeit erhalten hätte?" zeigt, wie eng die Geschichte Regensburgs mit bayerischen und deutschen historischen Hintergründen im Mittelalter verflochten ist. "Was wäre, wenn die Pläne von Neuböhmen verfolgt worden wären?" beschreibt die Bedeutung einer Episode der regionalen Geschichte, die außerhalb der betroffenen Region aufgrund ihrer kurzen Zeit in Vergessenheit geraten ist. "Was wäre, wenn die Stadt Regensburg die Pläne für eine autofreundliche Altstadt nach 1978 weiter umgesetzt hätte?" macht die politischen Entscheidungen der Vergangenheit für die Menschen der Gegenwart verständlich und nachvollziehbar. "Was wäre passiert, wenn die OTH Amberg-Weiden nicht oder anders gegründet worden wäre?" verdeutlicht, welche Möglichkeiten strukturpolitische Entscheidungen der Gegenwart für die Zukunft haben.
Die Perspektiven einer solchen regionalen Alternative History sind der Forschungsschwerpunkt des Ankerpunkte Blogs. Für die Zukunft sollen dort anhand der Fallstudien plausible Alternative History Szenarien entworfen werden, die einen höheren Grad an faktischer Determinierung aufweisen. Dazu müssen sie weitere und detailliertere Analysen von regionalen historischen Entwicklungen und deren Einflussfaktoren aufweisen.
6. Round Table Insight
Die Vorträge im Round Table 3 der "WhatIf'21"-Konferenz, in dem diese Thematik vorgestellt wurde, zeigten trotz der unterschiedlichen Themen und Forschungsfelder viele Überschneidungen in den Zielen für Alternative History in der Regionalgeschichte. Rui Macário zeigte am Beispiel eines Museums, dass ein Laienpublikum leichter mit "Was-wäre-wenn-Fragen" erreicht werden kann. Entsprechende Fragen und Antworten liefern aufschlussreiche Einblicke für die Museumsbesucher und erhöhen die Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Region. Cynthia Montaudon-Tomas nutzte Alternative History Szenarien als Standardwerkzeug in ökonomischen Analysen, um neue Möglichkeiten und bisher unbekannte Potenziale in wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen aufzuzeigen. Damit zeigte sie eine tatsächliche Verbindung zur vierten Perspektive dieses Artikels (Alternative History kann Möglichkeiten für Gegenwart und Zukunft aufzeigen).
Danksagung
Der Autor dankt dem Team der internationalen Konferenz "WhatIf'21" für die Möglichkeit, die regionale Alternative History der Oberpfalz vorzustellen. Besonderer Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen des Round Tables für ihre Beiträge, die zum Ankerpunkte-Blog weiter beitragen. Ana da Silveira Moura hat mit ihren kritischen und konstruktiven Kommentaren dieses Paper deutlich vorangebracht.