Vor vierzig Jahren, am 1. Januar 1977, trat in der Bundesrepublik Deutschland das Strafvollzugsgesetz in Kraft. Es löste damit eine Strafvollzugsordnung aus dem Jahr 1934 ab, die unter Juristen stark umstritten war. Ziel des neuen Bundesgesetzes war die Resozialisierung der Gefangenen. Sie sollten befähigt werden, nach ihrer Freiheitsstrafe wieder Anschluss an die Gesellschaft zu finden. Dem neuen Gesetz ging insbesondere Anfang der 1970er Jahre eine leidenschaftlich geführte gesellschaftliche Debatte voraus, in der darum gestritten wurde, wie liberal verfasste Staaten mit ihren Gefangenen umgehen und was sie zur Wiedereingliederung der Inhaftierten leisten können. Die Historikerin Dr. Annelie Ramsbrock vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam untersucht einem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Forschungsprojekt den Strafvollzug in westdeutschen Gefängnissen und fragt dabei, wie ernsthaft Resozialisierungsprogramme verfolgt wurden.
"Eines der Grundprobleme liberaldemokratischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert"
L.I.S.A.: Frau Dr. Ramsbrock, Sie erforschen in einem neuen Projekt unter dem Arbeitstitel „Geschlossene Gesellschaft“ die Resozialisierung in westdeutschen Gefängnissen in der Zeit von 1950 bis 1990. Was hat Sie zu dieser Themenauswahl geführt und welcher zentralen Fragestellung folgen Sie dabei?
Dr. Ramsbrock: Themen zeithistorischer Arbeiten ergeben sich häufig aus der Gegenwart. Das ist auch bei meinem Thema der Fall. Seit ein paar Jahren, so mein Eindruck, rückt das Gefängnis als Ort staatlichen Strafens verstärkt in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Nicht nur, dass überregionale Zeitungen immer wieder über Missstände in deutschen Justizvollzugsanstalten berichten, auch liefern populäre Sachbücher zunehmend Einblicke in das Leben hinter Gittern. Besonders bemerkenswert finde ich daran, dass die Berichterstattung nicht etwa auf Haftanstalten in solchen Ländern zielt, von denen wir schon wissen, dass sie die Menschenrechte mit Füßen treten und Gefangene entsprechend brutal behandeln. Vielmehr geht es inzwischen auch darum, den Strafvollzug im eigenen Land unter die Lupe zu nehmen und kritisch zu hinterfragen, ob und inwieweit unser Rechtsstaat auch für diejenigen Menschen erreichbar ist, die jenseits der Gefängnismauern leben.
Anlass für einen derartigen Blickwinkel mögen verschiedene Urteile oder Beschlüsse internationaler Gremien gegeben haben. So erklärte etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den Jahren 2009 und 2011 die Verhängung und Ausübung der Sicherungsverwahrung als ultima ratio des bundesdeutschen Strafenkatalogs für menschenrechtswidrig. Zeitgleich beanstandete das Antifolterkomitee des Europarates die in Deutschland per Gesetz noch immer gegebene Möglichkeit der chirurgischen Kastration für Sexualstraftäter als eine „verstümmelnde“ und „erniedrigende Behandlung“. Andere europäische Länder (mit Ausnahme von Tschechien) hätten diese längst abgeschafft. Jenseits der offenbaren Missachtung internationaler Standards bei der Ausübung des Strafvollzugs in Deutschland diskutierten die Medien auch noch die offenkundige Gewalthaftigkeit innerhalb der Gefängnisse. Mißhandlungen der Insassen untereinander, teils mit Todesfolge, seien inzwischen ebenso selbstverständlich wie ein florierender Drogenhandel. Gefängnisse, so kommentierte etwa die ZEIT diese Entwicklung, seien zur „Schlechterungsanstalt“ verkommen, weil der Staat sein Ziel der Resozialisierung aufgegeben habe und damit, so lässt sich ergänzen, die Grundidee, die mit dem Gefängnis seit seiner Geburt zumindest in der westlichen Welt verbunden war.
Solche Stimmen brachten mich letztlich zu der Frage, was das denn eigentlich für eine Geschichte ist, an deren wir Ende vermeintlich stehen. Was hat der Staat konkret aufgeben? Was war sein Ziel? Anders formuliert: Was meint Resozialisierung in einer postfaschistischen Gesellschaft und inwieweit spiegelte sich diese Idee in der Reform des Strafvollzugs? Konkret geht es mir in einem Schritt um die Entwicklung der Resozialisierungsidee nach 1945, vor allem um die politischen und sozialwissenschaftlichen Leitbilder. Weiter untersuche ich die Implementierung dieser Idee im Vollzug. Dabei geht es mir besonders um die Frage, wie das Gefängnis als Sozialisationsinstanz eingerichtet wurde und inwieweit sich das alltägliche Leben der Gefangenen veränderte. Schließlich interessiert mich wie die Gefangenen auf die Strategien zu ihrer Resozialisierung reagierten, welche Kritik sie formulierten und welche Ansprüche an ihr persönliches Recht auf Freiheit im Freiheitsentzug. Indem ich die Entwicklung, Anwendung und Erfahrung des Resozialisierungsprogramms in Westdeutschland untersuche, versuche ich nicht zuletzt eines der Grundprobleme liberaldemokratischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert zu behandeln, nämlich die Möglichkeiten und Grenzen der staatlichen Regulierung von Individuen in einem paradoxen, gleichwohl nicht seltenen Fall: wenn ein Mensch aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird, um ihm beizubringen wie er sich innerhalb der Gesellschaft zu verhalten hat.
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Annelie Ramsbrock, Vom Schlagstock zur Sozialtherapie. Gewalt in westdeutschen Gefängnissen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 15 (2018), S. 277-301, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/2-2018/5591