Mieczysław Weinberg (1919-1996) wird gegenwärtig weltweit durch Einspielungen und Aufführungen seiner Werke – zuletzt mit überwältigendem Erfolg während der Bregenzer Festspiele 2010 – als einer der wichtigsten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts entdeckt. Als polnischer Jude war Weinberg 1939 auf der Flucht vor den Nazis in die Sowjetunion gekommen, wo er von Autoritäten wie Dmitrij Šostakovič gefördert wurde. Unter Stalin erlitt er antisemitische Repressionen und kam in Haft. Erst während der Regierungszeit Leonid Brežnevs zwischen 1964 und 1982 wurde ihm zunehmend Anerkennung und Erfolg zuteil, ohne dass er jemals zu den affirmativen Staatskomponisten gezählt hätte. Vielmehr fand er offenbar Wege, sich mit der herrschenden Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus ohne kreative Verluste zu arrangieren.
Um diese Wege einschätzen zu können, sind die ästhetischen Maßstäbe, die sich in Weinbergs Werken greifen lassen, mit den Anforderungen der Kunstdoktrin zu vergleichen. Doch welche Anforderungen dies waren, ist gerade im Bereich der Musik noch keineswegs für alle Phasen gleichermaßen geklärt. Während sich für die Stalinzeit mittlerweile ein recht klares Bild entwerfen lässt, ist es für die Jahre danach weit weniger deutlich. An diesem Desiderat setzt die Tagung an, indem sie speziell die Ära Brežnevs fokussiert. Welche Wirkungsmacht besaß der Sozialistische Realismus in diesen Jahren für die Musik, welche Postulate erhob und welchen ideologischen Schwankungen unterlag er? Und wie lässt sich das Œuvre Weinbergs aus dieser Ära kontextualisieren und interpretieren? Da dies nur im interdisziplinären Vergleich erörtert werden kann, werden VertreterInnen der Kunstgeschichte, der Literaturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft hinzugezogen.