Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und Historiker und beschäftigt sich in seinen Promotionsstudien mit der Genese des türkisch-kurdischen Konfliktes. Einen besonderen Schwerpunkt legt er auf die kurdischen Aufstände im jungen türkischen Nationalstaat in den 1920er und 1930er Jahre. Zudem arbeitet er als Journalist und berichtet – unter anderem auch tagesaktuell für eine große Anzahl Twitter-Followerer – über die gegenwärtige Entwicklung in den kurdisch-geprägten Gebieten der Türkei. Er hat unter anderem den Sammelband „Kampf um Kobane – Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens“ herausgegeben. Wir haben mit ihm über die aktuelle Lage im Südosten der Türkei und im Norden Syriens gesprochen.
"Ich benutze den Begriff des Krieges"
L.I.S.A.: Herr Küpeli, aus den kurdisch-geprägten Gebieten im Südosten der Türkei erreichen uns unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Meldungen. Wie würden Sie die derzeitige Lage beschreiben? Welche Bezeichnung ist angemessen? Aufstand, Bürgerkrieg, Krieg?
Küpeli: Die widersprüchlichen Meldungen gehen darauf zurück, dass die Realitäten widersprüchlich sind. Anders gesagt: Die Lage in den kurdischen Gebiete im Südosten der Türkei ist nicht einheitlich. Während einige Städte seit dem Sommer 2015 von Krieg und Zerstörung geprägt sind, ist in vielen Teilen der kurdischen Gebiete von einem offenen Krieg wenig zu spüren. Diese ungleiche Entwicklung der Gewaltprozesse macht es schwierig, einen Begriff zu finden, der beide Zustände angemessen beschreibt. Ausschließen lassen sich indes Aufstand und Bürgerkrieg. Es ist kein Aufstand, weil der Ausbruch des Konflikts auf eine gegenseitige Eskalation zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen PKK zurückgeht – und nicht darauf, dass sich die kurdische Bevölkerung in der Türkei erhoben hätte. Den weiteren Verlauf ab Juli/August 2015 bestimmten türkische Luftangriffe auf die PKK-Stellungen in Nordirak und die Offensiven der türkischen Armee im kurdischen Südosten der Türkei. Die Beschreibung als Bürgerkrieg lässt sich weniger einfach ausschließen. Es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass der Konflikt irgendwann in einem Bürgerkrieg, in dem „die“ Türken gegen „die“ Kurden kämpfen, münden könnte. Die nationalistische Mobilisierung hat deutlich zugenommen und institutionelle Brücken im Rahmen der Zivilgesellschaft, die über die ethnischen Spaltungen existieren, wurden zum Teil bereits zerstört. Aber noch ist es ein politischer Konflikt der türkischen Regierung mit jenen Teil der kurdischen Gesellschaft, die sich als PKK-nah beschreiben lässt – wenn auch mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen dieser PKK-Nähe. Insofern benutze ich den Begriff des Krieges, wobei sich für die Zukunft weder eine Entwicklung hin zum Bürgerkrieg noch zum Genozid ausschließen lässt.