Die Tatsache, dass laut Meinungsumfragen 1964 ein Großteil der Westdeutschen für das Ende der Strafverfolgung votierte, bestärkte die Bundesregierung in ihrer Entscheidung, die Verjährungsfrist für Mordverbrechen am 8. Mai 1965 auslaufen zu lassen. Da viele in Osteuropa archivierten Belastungsdokumente nicht ausgewertet, zahlreiche NS-Täter noch nicht ermittelt waren, hätte die geplante Verjährung ein erhebliches Ahndungshindernis bedeutet. Zeitgleich zu dem Kabinettsbeschluß für die Verjährung sammelte sich in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Gruppe um den Rechtspolitiker Ernst Benda. Sie wollte eine zehnjährige Verlängerung der Frist durchsetzen – und hatte durchaus eine Chance, weil sie zusammen mit den Sozialdemokraten fast die Hälfte der Bundestagsmandate stellte. Im Januar 1965 nahm die Bundesregierung tatsächlich ihren Beschluß zurück und überließ dem Bundestag die Entscheidung über die Verjährung.
Wenn sich in den Parteien – mit Ausnahme der in diesen Dingen notorisch standfesten FDP – ein Stimmungsumschwung abzeichnete, so vor allem deshalb, weil in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa jüdische Organisationen und Verfolgtenverbände gegen die beabsichtigte Verjährung Sturm liefen. Schließlich appellierten fast sämtliche Parlamente und Regierungen der westlichen Staaten an die Bundesrepublik, ihre Entscheidung rückgängig zu machen. All dies führte der westdeutschen politischen Klasse nachdrücklich vor Augen, dass ihre normative Distanzierung von der NS-Vergangenheit mittlerweile zum Prüfstein für die internationale Reputation der Bundesrepublik geworden war. Der Kompromiß, die Verjährungsfrist zumindest um vier Jahre zu verlängern, erschien daher zwingend erforderlich.
Um die Gefahr, hinsichtlich der Verjährung ein weiteres Mal unter Druck zu geraten, zu bannen, faßten die Justizminister der Länder den Beschluß, die Strafverfolgung in einem Maße auszuweiten, wie es vor der Verjährungsdebatte undenkbar gewesen wäre: Der Personalbestand der Zentralen Stelle wurde im April 1965 von 15 auf 50 Staatsanwälte sowie um weitere 57 Mitarbeiter erhöht.[20]
Im Zuge der parallel betriebenen personellen Erweiterung der Sonderstaatsanwaltschaften in den einzelnen Bundesländern[21] veränderte sich auch die Rolle der Zentralen Stelle: Nun sollten Vorermittlungen möglichst frühzeitig an die Staatsanwaltschaften abgegeben werden, während der Schwerpunkt der Arbeit auf die Auswertung von Archivmaterial gelegt wurde, der Sammlung und Weitergabe von Information zu einzelnen Verbrechenskomplexen und der Koordination der gesamten Ermittlungsarbeit. Welche außerordentliche Bedeutung der Fristverlängerung und der Aufstockung des Ermittlungspersonals für die Entwicklung der Strafverfolgung zukam, sollte sich in den nächsten Jahren zeigen: Obwohl im Vorfeld des Bundestagsbeschlusses bereits in Tausenden von Fällen die Verjährung unterbrochen worden war, wurden von März 1965 bis Ende 1967 gegen mehr als 15000 Personen neue Ermittlungsverfahren eingeleitet – allesamt wegen Mordverbrechen. Hinzu kamen 600 noch bei der Zentralen Stelle anhängige Vorermittlungsverfahren. Damit wurden in diesen zwei Jahren etwa 30 bis 40 Prozent aller Personen erfaßt, gegen die von westdeutschen Justizbehörden seit Kriegsende wegen Beteiligung an nationalsozialistischen Mordtaten ermittelt worden war.[22]
Unverkennbar hatte hier eine Neuorientierung stattgefunden, eine seit Gründung der Bundesrepublik beispiellose Ahndungsanstrengung, die allerdings nicht unangefochten war: Erheblich zugenommen hatte nämlich seit 1965 nicht nur die Anzahl der Angeklagten, sondern auch der Freisprüche und Einstellungen von Strafverfahren.[23] Und in Politik und Justiz verstummten die Rufe nach Eindämmung der bevorstehenden Prozeßflut und Installation einer Amnestie nicht. Denn die Fristverlängerung wurde gerade in den Reihen der Konservativen als schmerzlicher Verlust der vergangenheitspolitischen Selbstbestimmung empfunden, die man möglichst bald zu revidieren hoffte.
In justitieller Hinsicht erwies sich die erneute Verlängerung der Verjährungsfrist 1969 um zehn Jahre als unerheblich – sie hatte in erster Linie moralische Signalwirkung. Zur gleichen Zeit konnte aber das Amnestievorhaben realisiert werden, und zwar mittels einer unbeachteten Novellierung des Strafgesetzbuch-Paragraphen 50/2. Eingeführt im Rahmen des neuen Ordnungswidrigkeitengesetzes von 1968, das vor allem Verkehrsdelikte entkriminalisieren sollte, besagte die Gesetzesänderung, dass Beihilfe zum Mord niedriger bestraft werden müsse als Haupttäterschaft. Entscheidend an der Novelle war aber allein die spezifische Auslegung, dass Beihilfe zum Mord aus sogenannten niedrigen Beweggründen bereits 1960 verjährt sein sollte. Bis heute ist ungeklärt, ob es sich bei der Novelle um eine Gesetzgebungspanne handelte oder ob einige Beamte des Bundesjustizministeriums sich die Interessen der NS-Täter zu eigen gemacht hatten.
Tatsache ist jedoch: Der Fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs fällte im Mai 1969 die juristisch hochumstrittene, aber politisch gewollte Entscheidung, dass die Verbrechen gerade derjenigen verjährt waren, die innerhalb des Mordapparates die Hauptverantwortung getragen hatten. Die zuständigen Richter, Berichterstatter Rudolf Börker, ehemals Kriegsgerichtsrat im Wehrmachtsgefängnis Torgau, und Senatspräsident Werner Sarstedt, der sich auch für die Straffreiheit der NS-Juristen einsetzte, erfüllten damit die Amnestieforderungen von CDU und FDP. Die wichtigste Konsequenz dieser Novelle war ohne Zweifel die Aussetzung des Prozesses gegen das Personal der Reichssicherheitshauptamtes, der, kurz vor der Eröffnung stehend, die Entscheidungszentrale der Vernichtungspolitik in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt hätte.[24]
Wenngleich die Gesamtzahl der auf Grundlage dieser Gesetzesänderung erfolgten Einstellungen noch unbekannt ist, liegt deren Bedeutung darin, dass damit die strafrechtliche Aufklärung der Holocaust-Verbrechen Ende der sechziger Jahre gleichsam auf halber Strecke abgebrochen wurde. Denn bislang mußten sich vornehmlich jene Täter vor Gericht verantworten, die in Einsatzkommandos sowie in den Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern ihren Teil zur Ermordung der Juden beigetragen hatten. Die Rolle der umfangreichen Verwaltungsapparate aber, die jene Vernichtungspolitik geplant und arbeitsteilig organisiert hatten, kam dabei nicht ins Blickfeld.
Vor diesem Hintergrund wäre die Anklage gegen die Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes von kaum zu überschätzender Relevanz gewesen, um Entscheidungsverläufe, Befehlsketten und damit auch individuelle Verantwortlichkeiten zu erhellen. Schließlich reichte die in Gang gesetzte Strafbefreiung für „Schreibtischtäter“ weit über die Aussetzung dieser Prozeßserie hinaus. Betroffen waren ebenfalls die von der Zentralen Stelle in jahrelanger mühsamer Arbeit vorbereiteten Sammelverfahren zur Zivilverwaltung im besetzten Osteuropa. Ende des Jahres 1968 konnten die Mitarbeiter der Ludwigsburger Behörde, gestützt durch neue Aktenfunde in der Sowjetunion, nachweisen, dass die Ziviladministration, entgegen der Legende, sie sei „sauber“ geblieben, systematisch in den Völkermord involviert gewesen war. Zu diesem Zeitpunkt begannen sie daher, die Ermittlungsverfahren gegen zahlreiche Beschuldigte an mehrere Staatsanwaltschaften zu übertragen, mußten aber nach dem Bundesgerichtshof-Urteil mitansehen, wie ihr gesamtes Unterfangen mißglückte.[25] Entsprechend gering waren fortan die Erfolgschancen für vergleichbare Verfahren, zumal gegen die obersten Reichsbehörden.
Zu bilanzieren ist, dass diese Novelle der Justiz ein wirksames Instrument an die Hand gab, um die Verantwortungsträger in den Verwaltungseliten des NS-Regimes nicht vor Gericht stellen zu müssen. Im Dunkeln konnte daher auch bleiben, was unter Studenten und linken Intellektuellen zwar spätestens seit dem DDR-Braunbuch bekannt war, aber daher auch um so leichter als kommunistische Diffamierung abgetan werden konnte: Die Tatsache nämlich, dass nicht wenige dieser „Schreibtischtäter“, ausgewiesen durch gute Ausbildung und Leitungserfahrung, in die Führungsetagen der westdeutschen Wirtschaft, Justiz und des öffentlichen Dienstes zurückgekehrt waren und dort Karriere gemacht hatten. Dieser Reintegrationsprozeß bildete letzten Endes den mentalen Hintergrund für die Straffreistellung von Belasteten, die aus den eigenen Reihen stammten. So konnte sich in den folgenden Jahren in der Öffentlichkeit die Ansicht durchsetzen, dass die Phase der „justitiellen Vergangenheitsbewältigung“ weitgehend abgeschlossen sei; NS-Prozesse stießen seitdem nur noch vereinzelt, vornehmlich, wenn Skandale zu vermelden waren, auf größere öffentliche Resonanz.[26] Insgesamt hat die westdeutsche Justiz bis 1998 in NS-Strafsachen Ermittlungs- und Vorermittlungsverfahren gegen über 106000 Personen eingeleitet, von denen knapp 6500 rechtskräftig verurteilt wurden. Darunter waren 150 lebenslängliche Freiheitsstrafen und – vor Inkrafttreten des Grundgesetzes – 14 Todesurteile. Das Gros der Verurteilten erhielt eine Haftstrafe unter fünf Jahren.[27]
Dem Prozeß der Demokratisierung in der Bundesrepublik ist angesichts der aus den bloßen Zahlen kaum ersichtlichen Ahndungsdefizite ein erhebliches moralisches Defizit eingeschrieben. Um so bedeutender erweist sich in der Rückschau die Normsetzung der Nürnberger Prozesse durch die Alliierten und, mit Blick auf die völkerrechtliche Zukunft, die Tätigkeit des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag. Denn am Fallbeispiel der Bundesrepublik läßt sich erkennen, dass nach langen Jahren der Diktaturerfahrung in sehr begrenztem Maße demokratischen Funktionseliten zur Verfügung stehen. Eine angemessene strafrechtliche Verfolgung bei staatsgestützten Massenverbrechen können daher nur übernationale Anklagebehörden und Gerichte gewährleisten.