Während in Ost und West die ersten verlustreichen Schlachten geschlagen wurden, trugen deutsche Vertreter aus Wissenschaft, Kultur und Kunst an einer ganz anderen Front einen zusätzlichen Krieg aus - eine Propagandaschlacht um die öffentliche Meinung und Deutungshoheit des Ersten Weltkriegs. Es ging dabei um das internationale Ansehen des Deutschen Kaiserreichs als europäische Kulturnation, das nach dem völkerrechtswidrigen Überfall auf Belgien und dem dort ausgeübten Besatzungsregime stark gelitten hatte. Die Deutschen wurden in Veröffentlichungen und Verlautbarungen insbesondere im angelsächsischen Raum als Barbaren, Hunnen und brutale Militaristen bezeichnet. Dem wollten insgesamt 93 deutsche Intellektuelle etwas entgegensetzen und unterzeichneten einen gemeinsamen Aufruf mit dem Titel An die Kulturwelt! Der Althistoriker Prof. Dr. Jürgen von Ungern-Sternberg von der Universität Basel hat sich bereits in den 1990er Jahren intensiv mit dem Manifest der 93 beschäftigt und dazu gemeinsam mit Dr. Wolfgang von Ungern-Sternberg publiziert. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Der Aufruf hat dem Ansehen der deutschen Wissenschaft schwer geschadet"
L.I.S.A.: Herr Professor von Ungern-Sternberg, vor gut 100 Jahren haben 93 deutsche Intellektuelle einen Aufruf an die Weltöffentlichkeit verfasst, genauer einen Aufruf „An die Kulturwelt!“. Was sind Hintergrund und Inhalt dieses Aufrufs? Wie kam es dazu?
Prof. von Ungern-Sternberg: Der Aufruf wurde am 4. Oktober 1914 in zahlreichen deutschen Zeitungen veröffentlicht. Also hätten wir gerade das 100-jährige Jubiläum feiern können. Zu feiern bestand da freilich überhaupt kein Anlass, der Aufruf hat dem Ansehen der deutschen Wissenschaft in der Welt schwer geschadet.
Der Erste Weltkrieg hat in jeder Hinsicht die damals Lebenden überrascht, in seinem miltärischen Ausmaß, in seinen wirtschaftlichen Folgen, aber auch in seiner Wirkung auf die Weltöffentlichkeit. Beide kriegführenden Seiten rangen vom ersten Tage an um ihr Ansehen bei den neutral gebliebenen Mächten. Das war zunächst noch Italien, dann andere europäische Staaten, wie die skandinavischen, die Niederlande, die Schweiz, Spanien und Portugal, Griechenland, vor allem aber die USA. Beide Seiten bemühten sich natürlich, die Gerechtigkeit ihrer Sache zu propagieren. Dies geschah sehr bald auch durch gemeinschaftliche Erklärungen von Wissenschaftlern und Künstlern, wie es sie eigentlich nur in diesem Ersten Weltkrieg gegeben hat.
Derartige Manifeste von Intellektuellen gab es seit der Dreyfus-Affäre in Frankreich, dann in England mit der Kampagne für den ‚National Insurance Act’, gleichzeitig aber auch in Deutschland mit der Agitation der ‚Flottenprofessoren’ im Einvernehmen mit der Reichsmarine, andererseits aber auch mit dem ‚Goethebund’, in dem seit 1900 sich zahlreiche Künstler und Wissenschaftler zusammengeschlossen hatten, um gegen die drohende Kunstzensur aufgrund der lex Heinze zu kämpfen. Seit September 1914 traten nunmehr die Intellektuellen, zunächst in Deutschland und England, sozusagen in geschlossenen Phalangen in den ‚Krieg der Geister’. Unter den ersten waren die Historiker der Universität Bonn mit einer Erklärung am 1. September und 53 englische Schriftsteller mit ‚Britain’s Destiny and Duty. Declaration by Authors. A Righteous War’, erschienen am 18. September in der ‚Times’. In diese Reihe gehört auch der Aufruf ‚An die Kulturwelt!’.
Wichtig für sein Verständnis ist aber auch, dass die Ententemächte, insbesondere die Franzosen, von vornherein die Deutschen insgesamt als ‚Barbaren’ oder ‚Hunnen’ zu disqualifizieren suchten. Den Ton gab dabei der Philosoph Henri Bergson an, der bereits am 8. August als Präsident der Académie des sciences morales et politiques von einem Krieg „der Zivilisation gegen die Barbarei“ sprach und es für eine „schlichte wissenschaftliche Verpflichtung“ erklärte herauszustellen, „dass die Brutalität und der Zynismus Deutschlands, seine Verachtung jeder Gerechtigkeit und jeder Wahrheit, eine Rückfall in den Zustand der Wilden bedeute.“ Gleichzeitig kolportierte die Presse jede Art von Greuelberichten über das deutsche Vorgehen in Belgien und Frankreich. Was zunächst hasserfüllte Tiraden waren, erhielt freilich in den nächsten Wochen Nahrung durch die Härte, mit der die deutschen Truppen in Belgien gegen wirkliche und noch mehr gegen angebliche Franktireurs und Zivilisten vorgingen, durch den Brand der Universitätsbibliothek in Löwen und durch die Beschießung der Kathedrale von Reims. Gegen den Vorwurf der Barbarei wollte sich der Aufruf ‚An die Kulturwelt!’ zur Wehr setzen.
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Eine zweite Ergänzung: Auch die deutsche Presse diffamierte die Kriegsgegner schon bevor der erste Schuss gefallen war als Barbaren. Ich habe die Berichterstattung von 13 wichtigen deutschen Tageszeitungen während der Julikrise untersucht und es ist besonders erschreckend, wie sehr auch die anfangs kritischen Zeitungen gegen Ende der Krise "umgefallen" sind. So wütete etwa die linksliberale "Frankfurter Zeitung" am 2. August 1914 über "beispiellose Perfidie" der leitenden Männer Russlands, den "heimtückischen Geist eines nur oberflächlich gefirnissten Tatarentums", der mit westlichen Ehr- und Sittlichkeitsbegriffen nicht das Geringste zu tun" habe und ruft dazu auf, den deutschen Boden vor "moskowitischer Barbarei" zu schützen. Andere Zeitungen klingen ähnlich und am 3. und 4. August kommt es zu entsprechenden Ausfällen gegen "heimtückische Franzosen" und "gewissenlose englische Krämerseelen".
( Mehr dazu: "Der Pathos der Verführten" vom 4.8.2014 auf www.juli1914.de/blog.html )