Es dauerte nur wenige Minuten nach der Meldung vom Attentat auf das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo" in Paris bis sich in den Sozialen Netzwerken das Bild mit dem Schriftzug "Je suis Charlie" verbreitete. Der Hashtag #JeSuisCharlie wurde über den Kurznachrichtendienst Twitter millionenfach geteilt - nach einer Grafik vor allem in Europa und an der Ostküste der USA. Was veranlasst Millionen von Menschen sich in dieser Form zu äußern? An wen richtet sich die öffentliche Bekundung von Betroffenheit beziehungsweise Trauer? Und: In welcher Tradition stehen solche Akte der öffentlichen Anteilnahme? Wir haben unsere Fragen dem Germanisten Dr. Claude Haas vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL) gestellt, der sich aus kulturwissenschafticher Perspektive mit öffentlicher Trauer beschäftigt.
"Weniger eine Identifikation als eine umfassende Solidaritätsbekundung"
L.I.S.A.: Herr Dr. Haas, die öffentliche Anteilnahme nach dem Terroranschlag in Paris ist gewaltig. In den Sozialen Netzwerken kursiert fast überall der Satz "Je suis Charlie". Wie schätzen Sie das ein? Echte Betroffenheit oder eher ein eingeübtes Ritual?
Dr. Haas: In meinen Augen tun wir gut daran, Kategorien wie "Echtheit", "Authentizität" usw. Ritualen und Konventionen nicht einfach diametral gegenüberzustellen wie es gerade in Deutschland bis heute leider allzu oft der Fall ist. Es gibt keine 'Wahrhaftigkeit' des Affekts, die seinem sozialen oder kulturellen Ausdruck prinzipiell opponieren würde oder gar müsste. Wenn die sozialen Netzwerke hinsichtlich von Trauerbekundungen regelrecht ansteckend wirken, spricht dies also weder gegen die potenzielle 'Tiefe' der Trauer, noch handelt es sich dabei an sich bereits um ein fragwürdiges oder gar gefährliches Phänomen.
Den Satz "Je suis Charlie" darf man so oder so nicht zu wörtlich nehmen, sonst liefe er leicht auf eine Opferidentifikation hinaus, die sehr schnell anmaßende Züge bekommt. In den letzten Tagen ließ sich aber erfreulicherweise beobachten, dass weniger eine Identifikation als eine umfassende Solidaritätsbekundung gemeint ist. Das ist sehr zu begrüßen, schließt aber freilich politisch problematische Vereinnahmungen in dem einen oder anderen Fall nicht aus.