Heute jährt sich der 24. April 1915 zum einhundertsten Mal – jener Tag, an dem im osmanischen Konstantinopel hunderte führende Mitglieder der armenischen Gemeinden verhaftet und später ermordet wurden. Dieser Tag steht heute symbolisch für die Vernichtungspolitik des Osmanischen Reichs, der in den Jahren 1915 bis 1917 bis zu 1.5 Millionen armenische Bürger zum Opfer fielen. Obwohl die wissenschaftliche Kategorisierung als Völkermord unumstritten ist, verweigern die deutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestag eine klare Benennung der Politik als Genozid. Professor Mihran Dabag, Direktor des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung (Ruhr-Universität Bochum), hat zusammen mit 150 deutschen Wissenschaftlern einen offenen Brief an den Bundestag verfasst, in dem zu einer klaren Stellungnahme und Benennung der Tat aufgerufen wird. Wir haben mit ihm über den Brief und das Vorgehen der deutschen Politik gesprochen.
"Einige Wissenschaftler gehen heute von einer deutschen Mittäterschaft aus"
L.I.S.A.: Herr Professor Dabag, Sie haben einen offenen Brief an den Deutschen Bundestag initiiert, in dem die Abgeordneten dazu aufgefordert werden, den Genozid an den Armeniern vor 100 Jahren anzuerkennen. Darüber hinaus ist zu lesen, dass der 100. Jahrestag des 24. April 1915 ein angemessener Anlass für den Deutschen Bundestag sei, sich vor den Opfern zu verneigen und bei den Nachfahren der Überlebenden um Entschuldigung zu bitten. Warum? Müsste der Brief nicht an das türkische Parlament adressiert sein?
Prof. Dabag: Der primäre Adressat der Forderung nach Anerkennung ist in der Tat die türkische Regierung respektive das türkische Parlament. Allerdings hat sich die Regierung Erdogan, wie im Übrigen alle Vorgängerregierungen, hier als vollkommen unbeweglich gezeigt. Erdogan hat sich zwar dazu durchringen können die „Ereignisse von 1915/16“ zu bedauern, eine Bewertung dieser Ereignisse als Genozid wird aber weiterhin von ihm als Beleidigung der nationalen Ehre empfunden und dementsprechend aggressiv abgelehnt. Die Worte, die er an den Papst gerichtet hat, sind ja ein sprechendes Beispiel.
Der Deutsche Bundestag ist aber aus gleich mehreren Gründen der richtige Adressat unserer Forderung. Ein Völkermord betrifft als universelles Menschheitsverbrechen eben nicht nur die beteiligte Nation oder die beteiligten Nationen, sondern als fundamentaler Angriff auf das friedliche Zusammenleben der Völker, eben alle Menschen. Das internationale Strafrecht hat aus dieser Einsicht die Norm der „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect) entwickelt.
Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches auch eine ganz besondere Verantwortung trägt. Das Deutsche Reich war der wichtigste Verbündete des Osmanischen Reiches im ersten Weltkrieg. Es gab eine umfangreiche militärische Kooperation zwischen den beiden Staaten, deutsche Offiziere dienten in der osmanischen Armee. Die deutsche Diplomatie war zu allen Zeiten gut über die Vernichtungspolitik der Jungtürken unterrichtet und hat sich dezidiert dagegen entschieden, Druck auf den Verbündeten auszuüben und ihn so zu einer Änderung seiner Politik zu bewegen. Das Deutsche Reich hätte diese Möglichkeit gehabt. Das ist übrigens seinerzeit auch im Reichstag diskutiert worden. Es gab also zumindest eine Art Mitwisserschaft, einige Wissenschaftler gehen heute gar so weit von einer Mittäterschaft zu sprechen. Wir sprechen in dem offenen Brief ja von „unerträglicher Ignoranz“ mit der man die Ereignisse geschehen ließ. Ich denke das trifft den Sachverhalt sehr gut.
Der Deutsche Bundestag hat aber auch einfach eine Verantwortung der in Deutschland lebenden armenischen Diaspora gegenüber, die als mehrheitlich deutsche Staatsbürger natürlich ein Recht dazu haben, dass man sich auch ihrer Geschichte, ihrer Traumata annimmt.