Nächste Woche vor 208 Jahren nahm die Berliner Universität, die heute den Namen der Gebrüder Humboldt trägt, ihren Lehrbetrieb auf. Wenn es um Vorschläge zur Reform des Universitätssystems geht, fällt früher oder später unweigerlich der Name Wilhelm von Humboldt. Dabei vermischen sich sachliche Bezüge auf die Leistungen des preußischen Politikers mit retrospektiver Verklärung. Neben einer unverkennbaren Mythisierung Humboldts und seiner Ideen zur Universität lassen sich aber auch distanzierte und kritische Positionen ausmachen. Der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth, emeritierter Professor der Humboldt-Universität zu Berlin, hat es sich in seinem neuen Buch deshalb zur Aufgabe gemacht, zum einen den historischen Humboldt freizulegen und in den Kontext der zeitgenössischen Reformdiskurse einzubetten, zum anderen die Rezeptionsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte nachzuzeichnen. Was war und ist das bleibende Verdienst Humboldts, was bloße Zuschreibung, und was kann er uns heute noch sagen? Darüber haben wir mit Professor Tenorth gesprochen.
"Urteil über Humboldt höchst ambivalent"
L.I.S.A.: Herr Professor Tenorth, Wilhelm von Humboldt und seine Ideen zur Universitätsreform sind seit jeher Gegenstand intensiver Mythenbildung. Wie haben Sie die Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag Humboldts im vergangenen Jahr erlebt?
Professor Tenorth: Die Feierlichkeiten waren unübersehbar breit, die Akademie der Wissenschaften und der Bundespräsident haben Humboldt eingehend gewürdigt, aber das Datum wurde nicht nur in Berlin oder gar nur in unserer Universität wahrgenommen, sondern bundesweit und international. Aber das Urteil über Humboldt war gleichzeitig nicht nur so facettenreich, wie es einem Werk entspricht, in dem Humboldt Bildungsphilosophie und Zeitdiagnose, linguistische und ethnologische Studien, Bildungspolitik und Staatstheorie reflexiv und handelnd zum Thema gemacht hat, sondern auch höchst ambivalent, im systematischen Status zugleich radikal kritisiert und zum unüberholbaren Vorbild überhöht, in der historischen Wirkung so übersteigert wie abgewertet. Die Linguisten z.B. zeigen neben großer Distanz auch, wie bei Jürgen Trabant, emphatische Nähe, die Bildungsphilosophen vermissen immer noch das große geschlossene Werk, und seine Theorie von Staat und Nation wird zwar international, selbst in China, beachtet, in Deutschland aber auch als frühes Exempel des verderblichen ‚Neoliberalismus‘ getadelt. Im Blick auf die Bildungspolitik und zumal auf die Universität zeigten sich die Widersprüche am stärksten: Ein liberales Blatt wie „Die Zeit“ wünschte sich, dass man endlich von Humboldt Abschied nimmt, weil er zum Mythos stilisiert eine distanzierte Wahrnehmung und eine reflektierte Reform blockiert; die Protagonisten einer ‚unbedingten Universität‘ sehen ihn dagegen als immer noch gültigen Propheten universitärer Autonomie und lassen den historischen Humboldt hinter dem mythischen Konstrukt des „Humboldtianismus“ verschwinden. Realistische Bilder von Humboldts Erbe kann man heute eher im Ausland – von Schweden bis in die USA – lesen als in Deutschland.