L.I.S.A.: Die Diskussion um das Buch "Das Amt" war ja eigentlich schon abgeklungen. Einige Historiker äußern aber Zweifel am Wert der Arbeit der Historikerkommission und ihres Ergebnisbandes. Mitunter wird den beteiligten Wissenschaftlern vorgeworfen sie hätten nicht "sine ira et studio" gearbeitet. Wie erklären Sie sich die Kritik am Buch? Worauf zielt die Kritik ab? Was ist womöglich intendiert?
Dr. Weinke / Stahl: Geschichtsbilder, die über viele Jahre hinweg gepflegt wurden, verschwinden nicht von heute auf morgen. Dass die Diplomaten fleißig Widerstand geleistet hätten – ein Geschichtsbild, mit dessen Entstehung sich das Buch befasst – fand ja nicht nur amtsintern Verbreitung. Die Apologie der unmittelbaren Nachkriegsjahre schuf ein umfangreiches Repertoire an Deutungsangeboten und Argumentationsmustern, auf das stets auch Historiker zurückgegriffen haben und aus dem die Kritiker der Kommission bis heute schöpfen.
Während die Beharrungskraft verbreiteter Geschichtsbilder deshalb eigentlich nicht verwundern darf, so ist es doch erstaunlich, zu welchen Vorwürfen und Formulierungen sich einige der Kritiker hinreißen lassen. Selbst die Bezeichnung der Kommissionsmitglieder als „Fischers willige Vollstrecker“ scheint einigen von ihnen nicht zu weit zu gehen. Man wird den Eindruck nicht los, dass Eitelkeiten und Profilierungsdrang eine gewisse Rolle spielen.
L.I.S.A: In einigen Medienberichten ist inzwischen schon der Begriff "Neuer Historikerstreit" verwendet worden. Was halten Sie von der These, die aktuelle Debatte um das Buch "Das Amt" sei eine Fortsetzung des "alten" Historikerstreits aus den 80er Jahren? Wird aktuell neben der Auseinandersetzung um historisch-methodische und heuristische Fragen auch wieder um Geschichtsbilder, Geschichtstraditionen und Geschichtspolitik gerungen?
Dr. Weinke / Stahl: Sicherlich wird um Geschichtsbilder, Geschichtstradition und Geschichtspolitik gerungen. Von einem „neuen Historikerstreit“ zu reden würde allerdings heißen, sowohl den Anspruch des Buches falsch zu verstehen als auch die an ihm geäußerte Kritik über zu bewerten. Was die Kommission präsentiert hat, ist nicht eine neue Deutung der NS-Zeit. Vielmehr fügen sich ihre Ergebnisse in ein Gesamtbild ein, das sich unter Historikern eigentlich breiter Zustimmung erfreut: Die Nationalsozialisten profitierten bei der Umsetzung ihrer Politik von dem Know-how der bürgerlichen Elite, die durchaus mit Teilen des nationalsozialistischen Programms übereinstimmte. Die Kritiker der Kommission sind nun der Meinung, dass das Ausmaß der Kooperationsbereitschaft unter den Diplomaten in unserer Studie überzeichnet worden sei. Es wird also bis zum jetzigen Zeitpunkt über die Geschichte einer einzelnen Institution diskutiert, bisher ging es nicht wie im Historikerstreit um unterschiedliche Interpretationen der NS-Zeit.
L.I.S.A.: Das Thema "NS" ist heute noch hochaktuell. In deutschen Redaktionstuben heißt es bei der Themensuche nach wie vor: "NS geht immer". Auch die Wissenschaft beschäftigt sich bis heute intensiv mit der deutschen NS-Vergangenheit. Welchen Stellenwert messen Sie dem Buch "Das Amt" in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der NS-Zeit zu? Und: Wo sehen Sie nach wie vor großen Forschungsbedarf - gerade auch mit Blick auf NS-Kontinuitäten nach 1945 in Deutschland?
Dr. Weinke / Stahl: Der Ertrag des Buches ist es, zusammenhängend zu schildern, wie die Diplomaten des „Dritten Reichs“ die Politik der Nationalsozialisten umgesetzt und mitgestaltet haben, wie das eigene Handeln nach dem Krieg umgedeutet wurde und welche personalpolitischen und außenpolitischen Probleme dem neugegründeten Auswärtigen Amt aus seiner Vergangenheit erwuchsen. Die aktuelle Debatte über „Das Amt“ und über die Unterlagen des BND und des Verfassungsschutzes lässt erwarten, dass diese Art von Untersuchungen auch in Zukunft Konjunktur haben werden. Dabei wird hoffentlich deutlicher sichtbar werden, welche Folgen personelle und mentale Kontinuitäten nach 1945 für die Arbeit der bundesdeutschen Behörden hatten.