Seit Beginn der großen Fluchtbewegung aus den Kriegsgebieten im Nahen und Mittleren Osten nach Europa und vor allem nach Deutschland ist man sich darin einig, dass der Zuzug von Flüchtlingen bestehende Verhältnisse bedeutend verändern wird. Mehrere Indizien scheinen dafür zu sprechen, insbesondere die gegenwärtigen Verschiebungen im politischen Koordinatensystem - nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen europäischen Staaten. Worüber zurzeit vor allem gestritten wird, sind Vorstellungen und Ideen, wie dieser Wandel zu bewältigen ist. Der Philosoph und Anthropologe Prof. Dr. Ferdinand Fellmann, Emeritus der Technischen Universität Chemnitz, hat sich zuletzt in einem Beitrag im Blog Philosophie indebate zu dieser Thematik geäußert und uns diesen Artikel zur Kenntnisnahme eingereicht. Daraus entwickelte sich zwischen der L.I.S.A.Redaktion und Prof. Fellmann ein kontroverser, aber in der Sache konstruktiver E-Mail-Wechsel, den wir mit Einverständnis des Autors zu einem Interview kompiliert haben. Unsere Leitfrage: Ist Deutschland tatsächlich erst seit der aktuellen Flüchtlingskrise ein heterogenes Land geworden?
"Man wusste, mit wem man es zu tun hatte"
L.I.S.A.: Herr Professor Fellmann, Sie haben auf dem Blog "Philosophie InDebate" einen Beitrag zur aktuellen Flüchtlingsproblematik veröffentlicht. Den letzten Abschnitt leiten Sie mit dem Satz ein, dass es Ihnen bei dem Text darum gehe "eine Vorstellung von der gelebten Realität in einem heterogenen Land, wie es Deutschland durch die Flüchtlinge geworden ist, zu vermitteln." Ist Deutschland denn nicht schon seit Jahrzehnten ein heterogenes Land, wenn man beispielsweise an die sogenannte Gastarbeitermigration in die Bundesrepublik Deutschland seit den 1950er denkt? Der westdeutsche Teil der heutigen Republik hat doch seit mehr als fünfzig Jahren Erfahrungen mit Zuwanderung aus dem Süden.
Prof. Fellmann: Die Gastarbeitermigration in den 1960er Jahren ist nicht vergleichbar mit der unkontrollierten Flüchtlingswelle aus Syrien und anderen Ländern aus dem nahen und fernen Osten, die zunächst Züge einer modernen Völkerwanderung aufwies. Bei den Gastarbeitern handelte es sich um überschaubare Gruppen aus Europa, deren Einordnung durch Stereotype erfolgte. Aus meiner persönlichen Erfahrung (1939 geboren und in Westdeutschland aufgewachsener Flüchtling aus Schlesien) sah das etwa so aus: Unter den „Zuwanderung aus dem Süden“, wie Sie das nennen, wurden zunächst die Italiener wahrgenommen, die „Luigis“, die sich abends in den Bahnhofshallen trafen und aus Heimweh an Magengeschwüren litten. Bis sie sich dann in den Eisdielen etablierten und dort gern aufgesucht wurden. Dann kamen die Jugoslawen, die als mürrisch und unfreundlich galten, in den Restaurants dann aber Gerichte anboten, die viele Besucher anzogen. Ähnlich verhielt es sich mit den Griechen, deren Charakter aller windiger Unternehmungen zum Trotz offener und liebenswerter eingeschätzt wurde. Nicht zuletzt nach dem Vorbild von Alexis Sorbas. Der Song aus dem Film war fest mit dem Bild des Griechen verbunden.
Eine erste Grenzerfahrung bildeten die türkischen Gastarbeiter, für die es in Deutschland noch kein gängiges Bild gab. Hier half sich die Alltagspsychologie mit Reinhard Meys Song „Du wohl Türke, nix blabla, neu in Alemania“. In Berlin und Köln bildeten sich die ersten muslimischen Ghettos, die allerdings kaum Probleme machten. Eine besondere Gruppe waren die persischen Studenten, die von deutschen Kommilitonen mit Misstrauen betrachtet wurden, da wir fürchteten, sie würden uns die Mädchen wegschnappen. Als die Perser dann Ärzte waren, wurden sie als Randgruppe der deutschen Gesellschaft akzeptiert.
Von den Gastarbeiterinnen wurden zunächst die Portugiesinnen wahrgenommen, die meist niedere Arbeiten wie Putzen verrichteten, dann aber als Krankenschwestern in Erscheinung traten. Meine Schilderung will deutlich machen, dass mit den Gastarbeitern bestimmte Stereotype verbunden waren, die der Integration den Weg geebnet haben. Man wusste, mit wem man es zu tun hatte.
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Zu danken ist Ihnen auch für die empirischen Daten, die sie liefern, die das Gemeinte sehr schön veranschaulichen: Hält man die westlichen Frauen für körperlich frei, seelisch jedoch für Sklavinnen ihrer Sucht, allen Männern zu gefallen, so zeigt dies recht deutlich den Gesamtentwurf des Frauenbildes, der dahinter steht: die Frauen haben offensichtlich nichts anderes zu tun, als den Männern zu gefallen. Hinter dieser Rollenzuweisung der Frau scheint mir eine Tradition männlicher Wunschprojektion zu stehen – sozusagen ein Tendenzvorurteil, das für die Frauen nicht ohne Folgen bleibt: sie müssen zu ihrem eignen Schutz verhüllt werden – zum Schutz vor denen, die ihr diese Rolle zuschreiben! Nicht, dass auf westlicher Seite nicht gleichfalls zweifelhafte Rollenzuschreibungen gemacht würden. In diesem Punkt jedoch fallen sie anders aus (sonst könnte man sie uns nicht vorwerfen), da sie sich aus einer anderen Tradition speisen. Genau daran zeigt sich ein gewisser Schwachpunkt bei Gadamer: für ihn ist die alles Überspannende Tradition, der wir alle unterliegen und aus der wir unsere Vorurteile schöpfen, Garant für Intersubjektivität. Da wir alle der gleichen Tradition unterliegen, können wir uns überhaupt gegenseitig verstehen. Was jedoch, wenn es nicht nur eine, sondern mehrere, unterschiedliche, vielleicht sogar nicht miteinander kompatible Traditionen gibt? Ein Problem, das gerade beim Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen mit ins Verstehenskalkül gezogen werden muss.
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Besondere Verdienste um das Verstehen erwarb sich bekanntlich Gadamer, der ebenfalls eine, zumindest seit der Aufklärung, negativ konnotierte Bedingung von Verstehen wieder aufgriff, um sie ins rechte Licht zu rücken: das Vorurteil. Zwischen beiden, dem Stereotyp und dem Vorurteil, gibt es Parallelen, die es vielleicht Wert sind, dass man darauf hindeutet, da sich hieraus die Berechtigung des Stereotyps erklären kann.
Kurzum: Es soll der Rehabilitation des Stereotyps durch Fellmann die Rehabilitation des Vorurteils durch Gadamer an die Seite gestellt werden (zumal Stereotypen eine Subsumtion von Vorurteilen sind – sie sind Vorurteile über Personengruppen), um aufzuzeigen, wie notwendig ein derartiger Verstehensvorentwurf für die Erlangung von Verständnis überhaupt ist. Und Verständnis ist conditio sine qua non für so ziemlich alles, auch für Integration und richtiges moralisches Handeln. Verstehe und erkenne ich den Anderen nicht, so wird der richtige Umgang mit ihm zum Glücksspiel, dann verkehrt sich das "gut Gemeinte" recht schnell in das Gegenteil des "gut Gemachten".
Die Grundstruktur des Verstehens stellt sich für Gadamer in der Form des hermeneutischen Zirkels dar. Dieser besagt, dass das Verstehen des Ganzen aus dem Einzelnen und des Einzelnen aus dem Ganzen hervorgeht. Gadamer exemplifiziert diese zirkelhafte Verschränkung von Teil und Ganzem an der Erlernung von fremden Sprachen, wo ein Satz zuerst konstruiert werden muss, bevor seine Teile zu verstehen sind. Der Vorgang des Konstruierens fällt hierbei jedoch keineswegs neutral aus, sondern ist "selbst schon dirigiert, von einer Sinnerwartung, die aus dem Zusammenhang des Vorangegangenen stammt" (Gadamer: Vom Zirkel des Verstehens). Wir treten einem Text (und darüber hinausgehend jeglichem zu Verstehenden) mit einer Sinnerwartung entgegen und in dieser Sinnerwartung kommen unsere Vorurteile zum Tragen. Wer sich über seine Vorurteile erhaben glaubt oder meint, sie methodisch ausschalten zu können, der unterliegt ihrer Macht, die sie auch dann besitzen – nur umso mehr. Aus diesem Grunde Gadamers Rehabilitierung des Vorurteils und der Autorität. Vorurteile schränken, wie gemeinhin angenommen, unser Verstehen nicht nur ein, vielmehr sind sie Bedingung von Verstehen. Ihre Anerkennung heißt: "Anerkennung der wesenhaften Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens" (Gadamer: Wahrheit und Methode). Ein unmittelbares, direktes Verstehen gibt es nicht, vielmehr verstehen wir immer unter dem antizipierenden Entwurf einer bestimmten Ausdruckstendenz. Ohne einen vorauseilenden Verstehensentwurf, der sich aus Vorurteilen (aus Urteilen, die nicht endgültig, sondern vorläufig sind, die das aufgreifen, was unserem derzeitigen Wissenstand zur Verfügung steht) speist, können wir überhaupt nicht verstehen, sie sind deren Voraussetzung. Sie geben uns einen ersten Anhaltspunkt über dasjenige, was da verstanden werden soll, sie ermöglichen uns einen Zugang zu ihm.
Ähnlich verhält es sich mit den Stereotypen: Sie definieren denjenigen, der verstanden werden soll, sie geben ihm eine erste Kontur, wenn auch nur grob, vereinfachend und verallgemeinernd – stereotypisch eben, aber sie geben uns ein Wissen über und einen Zugriff auf den Fremden an die Hand, die weiterreichendem und tiefergehendem Verständnis die Türen öffnen können. Stereotypen vermögen es, dass wir eine Beziehung mit dem Fremden herstellen, und dass man überhaupt mit ihm in einer Beziehung stehen muss, ist selbst dafür notwendig, damit man ihn als Fremden wahrnimmt, worauf auch Georg Simmel in seinem "Exkurs über den Fremden" hinweist: "Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd – dies wenigstens nicht in dem soziologisch in Betracht kommenden Sinne des Wortes –, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah." Das Stereotyp gewährleistet immerhin eine diesseitige Beziehung zum Fremden. Und wo aus Ferne Nähe hergestellt werden soll, da muss das Wechselspiel von Nähe und Ferne wenigstens in Gang gebracht werden, wofür das Stereotyp als Impulsgeber dienen kann.
Was Stereotypen inhaltlich vermitteln, ist Tradiertes, vielleicht sogar nur Kolportiertes, zumindest jedoch nicht selbst Generiertes. Sie gehören zur Überlieferung. Doch gerade weil sie Teil der Überlieferung sind, kann sich unser Verstehen ihnen nicht entziehen. Wie Gadamer nicht müde wird zu erwähnen, Verstehen wir immer auf der Basis einer Tradition. Als Verstehende stehen wir in einer Tradition der Deutung von Gegenständen, welche die Möglichkeit neuer Deutungen einschränkt: jede neue Deutung muss in Beziehung zur vorgängigen gebracht werden, was den systemhaften Zusammenhang der Tradition zum Vorschein bringt. Als Teilhabende an der Tradition speist sich unser Verständnis aus dieser Teilhabe; aus ihr schöpfen wir die Vorurteilshaftigkeit unseres Verstehens. Aus diesem Grunde ist es trügerisch, um nicht zu sagen: gefährlich zu glauben, man könnte sich den eigenen Vorurteilen (respektive den Stereotypen) entziehen. Wir gehören diesen weit mehr, als diese uns.
Gerade dort, wo wir glauben, die Stereotypen tun dem Fremden Unrecht, müssen wir ihre Macht, die sie über unseren deutenden Blick haben, anerkennen, gerade weil wir diese Macht gar nicht immer eindeutig ausmachen können. Wir unterliegen ihr, da wir in der Überlieferung stehen, "und dieses Darinstehen ist kein vergegenständlichendes Verhalten, so daß das, was die Überlieferung sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre – es ist immer schon ein Eignes" (Gadamer: Wahrheit und Methode). Der durch das Stereotyp geprägte Blick auf den Fremden kann gar nicht vollständig ausgeblendet werden, da wir als Teilhabende der Tradition von ihm geprägt sind, er ist unser eigener, nur vermeintlich unvoreingenommene, Blick.
Dort, wo wir uns dessen eingedenk sind, vermögen wir es, dass wir Aufklärung über unser Geschichtlichsein erlangen, indem wir unsere hermeneutische Situation ausarbeiten. Wer möglichst weitgehend sachangemessen verstehen will, an den ergeht die Forderung, sich der eigenen Geschichtlichkeit, der Wirkungsgeschichte des zu Verstehenden sowie der eigenen Bedingtheit durch diese, bewusst zu werden, um nicht der Naivität eines unmittelbaren Verstehens aufzuliegen. Wer sich seiner hermeneutischen Situation bewusst ist, für den stellt das Vorurteil keine unbewusste Erkenntnisverfälschung mehr dar, sondern es wird zum Einstiegsportal für Verständnis.
Übertragen auf die Stereotypen bedeutet dies, dass sie der Türöffner zum Verständnis des Fremden sein können. Aufgrund der Unmöglichkeit, die Welt auf den ersten Blick, unmittelbar, direkt und bis in Detail wahrzunehmen, ist es notwendig, ein Vehikel zur Konturierung, zur Greifbarmachung, zur Annäherung zu nutzen. Als Vehikel zum Verständnis des Fremden bieten sich hierfür die Stereotypen an.
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