Weltweit wird der Alltag der Menschen vor allem von einem bestimmt: Dem Covid-19-Ausbruch, der Anfang März von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklärt wurde und dessen Epizentrum sich längst von einst China über Europa bis nach Amerika verschoben hat. Inzwischen sind die Vereinigten Staaten von Amerika mit über 1,7 Millionen Infizierten und mehr als 100.000 Toten das am meisten von der Pandemie getroffene Land. Doch welche Auswirkungen sind in den USA spürbar? Wie verändert sich das Leben? Diese Frage haben wir den Historikerinnen Prof. Dr. Astrid M. Eckert und Prof. Dr. Simone Lässig gestellt. Beide lehren, forschen und leben in den USA: Astrid M. Eckert lehrt an der Emory University in Atlanta deutsche und europäische Geschichte; Simone Lässig ist Leiterin des German Historical Institutes in Washington. Im Interview sind wir daher nicht ausschließlich auf die persönliche Situation der Wissenschaftlerinnen zu sprechen gekommen, sondern wollten auch wissen, wie Forschung, Lehre, Universitätsalltag sowie die Geisteswissenschaften selbst von der Pandemie beeinflusst werden.
"Früher ernst genommen als in der Politik"
L.I.S.A.: Professor Eckert und Professor Lässig, sie leben, lehren und forschen in den USA. Nachdem das neuartige Coronavirus Ende des letzten Jahres erstmals in der Volksrepublik China auftrat, verbreitet es sich seitdem weltweit: Inzwischen verzeichnen die USA mehr als 100.000 Virus-Tote, die Zahl der mit Covid-19 Infizierten übersteigt die Anzahl in China bei Weitem. Wie nehmen Sie die aktuelle Situation wahr? Wann sahen Sie sich erstmals mit dem Virus konfrontiert?
Prof. Lässig: Für uns am DHI Washington und an seinem Pazifikbüro an der UC Berkeley wurde das Virus bereits seit Februar 2020 zu einer Herausforderung, die über die medizinische und lebensbedrohliche Dimension der Pandemie hinausreichte und mit Macht in unsere wissenschaftliche Arbeit eingriff. Angesichts der langen Untätigkeit der amerikanischen Regierung und der fehlenden COVID-19-Tests wuchs zum einen die Unsicherheit, ob unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten ihre Forschungsaufenthalte wie geplant fortsetzen könnten. Eine Forschungseinrichtung nach der anderen schloss ihre Pforten und am 13. März tat es auch die Library of Congress, einen Tag später die National Archives. Und als Donald Trump in derselben Woche den – bis heute gültigen – Einreisestopp aus Europa verhängte, haben sich die meisten von ihnen entschieden, möglichst rasch zurück zu fliegen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war klar, dass sie ihrer geplanten Forschung vor Ort nicht weiter nachgehen konnten und in einem solchen Krisenszenario verständlicherweise ihren Familien nahe sein wollten. Auch die Unwägbarkeiten des amerikanischen Gesundheitssystems spielten eine Rolle bei der Rückkehr unserer Stipendiat*innen, die nicht nur aus Deutschland und den USA, sondern z.B. auch aus Kanada und der Schweiz kamen. Für die Forschungen dieser jungen Kolleg*innen war der Einschnitt in ihre Projekte natürlich gravierend. Die Möglichkeit, ein ganzes Jahr finanziell abgesichert in den USA recherchieren zu können, wirkt im Normalfall als mächtiger Katalysator für die Arbeit an der eigenen Qualifikationsschrift. Muss man sein Stipendium vorzeitig abbrechen, so hat das über kurz oder lang auch Konsequenzen für die nächsten Schritte in der akademischen Karriere. Auch deshalb haben wir allen Betroffenen angeboten, sich später noch einmal auf eines unserer Recherchestipendien zu bewerben. Einschnitte in ihren Forschungsprojekten sehen natürlich auch unsere eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie sind alle noch vor Ort in den USA und arbeiten engagiert an ihren Projekten, doch mussten sie ihre Pläne für Archivreisen und damit für die Bücher, an denen sie schreiben, neu justieren. Bislang sind aber alle gesund und zuversichtlich, die Krise gemeinsam meistern zu können. Wir stehen im ständigen Kontakt mit der Deutschen Botschaft, die uns bei der Ausarbeitung und Umsetzung unseres Krisenplans unterstützt.
Einen Krisenplan ganz anderer Art hat uns die Pandemie allerdings schon vor der Schließung des Institutsgebäudes abgefordert: Wie alle Institute der Max Weber Stiftung (MWS) werden wir aller sieben Jahre evaluiert und wie alle Institute haben auch wir uns lange und engagiert auf die für die letzte Märzwoche geplanten Begehungen im Rahmen dieses Evaluationsverfahrens vorbereitet. Diesmal sogar besonders intensiv, denn vom Ergebnis der Evaluierung hängt es ab, ob wir unser 2017 eröffnetes Pazifikbüro „PRO Berkeley“ als neue MWS-Präsenz an der Westküste weiter betreiben können oder nicht. Die Anspannung, aber auch die Motivation zu zeigen, was wir in den vergangenen Jahren geleistet haben, war entsprechend hoch. Ende Februar bzw. Anfang März fanden unsere Generalproben für die einwöchige Begehung in Berkeley und Washington statt. Doch wurden transatlantische Flugreisen immer unwahrscheinlicher und am 9./10. März haben dann alle Beteiligten einvernehmlich beschlossen, die Begehung digital stattfinden zu lassen – ein vorerst richtiger Entschluss, denn der Einreisestopp für Europäer folgte schon am nächsten Tag. Zu dieser Zeit allerdings war in Deutschland ebenso wie in den USA noch kaum jemand auf digitale Veranstaltungen von so großer Tragweite eingerichtet. Das war also eine echte Herausforderung: Neben allen Sofortmaßnahmen für unsere Stipendiaten, die genau zu dieser Zeit eilig das Institut verließen, und neben der Sorge um unsere eigenen Familienmitglieder, die in Deutschland leben oder gerade auf dem Weg zurück in die USA waren, musste eine digitale Begehung unserer beiden Standorte über neun Zeitzonen hinweg organisiert werden! Zusammen mit unserer Bonner MWS-Geschäftsstelle haben wir dafür binnen eines Tages einen Plan erarbeitet, in Windeseile die dafür notwendige Technik beschafft und begonnen, Vorträge und Interviews auf Video aufzuzeichnen. So wollten wir die online-Zeiten für die Kommission im Rahmen halten. Doch es dauerte nur wenige Tage bis klar war, dass sich die Situation derart zugespitzt hatte, dass auch Reisen innerhalb der Bundesrepublik nicht mehr möglich waren und die Evaluationskommission daher keine Chance hatte, an einem gemeinsamen Ort in Deutschland zusammenzukommen. Die logische Folge war: Am 16. März, sechs Tage vor dem geplanten Beginn der beiden Begehungen in Berkeley und Washington, mussten diese auch in der erst fünf Tage vorher erarbeiteten digitalen Form abgesagt und auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Das war für alle, die sich in Deutschland wie hier vor Ort bis zum Schluss um kreative Lösungen bemüht haben, eine notwendige und von allen Beteiligten akzeptierte, aber dennoch bittere Nachricht. Ihre Folgen reichen allein deshalb weit ins nächste Jahr hinein, weil heute noch niemand verlässlich planen und neue Termine für Projekte, die wie dieses vergleichsweise viel Vorbereitungszeit benötigen, festlegen kann.
Aber wir am DHI haben von diesen wahnsinnig anstrengenden Wochen auch profitiert: Die Mitarbeiter*innen haben an beiden Standorten ganz Enormes geleistet, die Ausnahmesituation hat sie noch enger zusammengeführt und ein Vertrauen, aber auch eine basale Resilienzfähigkeit wachsen lassen, die zu einer Art kulturellem Kapital wurde, als zuerst in Kalifornien und dann wenige Tage später in der U.S. Hauptstadt „stay at home“-policies in Kraft gesetzt wurden. Durch die Krise vor der Krise waren wir dafür – so scheint es – ganz gut gerüstet.
Prof. Eckert: Mein Campus grenzt direkt an das Gelände des Center for Disease Control (CDC), und zwischen Emory und dem CDC bestehen viele personelle und wissenschaftliche Verbindungen. Beim Ausbruch der Schweinegrippe 2009 hat Emory rasch Quarantäne-Unterbringung für Studenten bereitgestellt.[1] 2014 wurden in der Emory Klinik Ebola Patienten erfolgreich behandelt. Mit den Beispielen möchte ich den hohen Stellenwert von Public Health auf unserem Campus verdeutlichen, weshalb die Corona-Pandemie hier auch weit früher ernst genommen wurde als in der Politik. Die Informationen meiner Universität waren zeitnah und soweit verlässlich, wie der Wissensstand es gerade zuließ.
Im Februar wurde uns auch bewusst, dass das Frühlingssemester (Januar bis Mai) nicht zu einem normalen Ende kommen würde. Ich habe in dem Monat noch meine letzte Dienstreise nach Toronto unternommen, machte mir aber schon Sorgen, ob ich noch würde zurückfliegen können. Im Vorfeld der Frühlingsferien in der zweiten Märzwoche kam die Ansage, dass die Ferien um eine Woche verlängert werden, die Studierenden in der Zeit den Campus verlassen müssen, und wir anschließend mit dem Unterricht online weitermachen. Das hat besonders einkommensschwache Studierende, die auf die Wohnheime angewiesen sind, sehr hart getroffen (zum Glück ließen sich hier Übergangslösungen finden). In der Verlängerungswoche sollten die Professoren die Lehre auf Online-Unterricht umstellen, und dann ging es bis zum Semesterende auf Zoom weiter. Den Verlust der Präsenzlehre haben deutsche Studierende mit dem Beginn des Sommersemesters im April jetzt auch erlebt, allerdings wurde die Corona-Krise ja in den Semesterferien akut, so dass man in Deutschland etwas mehr Zeit hatte, sich darauf einzustellen. Wirklich schmerzlich war für uns auch die Absage des Commencement im Mai, also der Zeremonie für die Absolventen. Keiner hat die Entscheidung in Frage gestellt, es war nur einfach traurig.
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einschliessende Darlegung zu den USA (ausserhalb von Büchern und Spezialpublikationen) gefunden.
Meine Hochachtung und Dank!
Johannes
Neukirchen
Ministerialdirektor a.D.