Nordamerika verzeichnet nach Europa die meisten Opfer von COVID-19. Doch neben dem traurigen Rekordhalter des Kontinents, den USA, ist auch der Nachbar im Süden betroffen, von dem man jedoch selten hört: Mexiko. Mit mittlerweile 16.000 Todesfällen und beinahe 140.000 Infizierten (Stand 13.06.)[1] traf das Virus auch die mexikanische Regierung unvorbereitet. Mexiko ging dabei einen Sonderweg. Kontaktsperren wurden nicht verhängt, die Grenzen blieben offen, Touristen waren willkommen - denn der ohnehin abgeschlagenen Wirtschaft sollte nicht noch mehr geschadet werden. Diese Entscheidung begründet die Regierung mit der Situation der vielen informellen Händlerinnen und Händler, Arbeiterinnen und Arbeiter. Denn viele Menschen leben von der Hand in den Mund und haben kein Einkommen, wenn sie nicht verkaufen. Doch in einer globalisierten Welt kann kein Land im Vakuum agieren - und die mexikanische Wirtschaft wird von den Entscheidungen anderer Länder ebenfalls betroffen, beispielsweise in der Tourismusbranche, im informellen Sektor oder beim Export. Seit Mitte März verloren insgesamt fast 350.000 Mexikanerinnen und Mexikaner ihre Arbeit. Wie sieht der Kurs der Regierung aus? Was macht das Virus mit einer Gesellschaft, in der das Vermögen sehr ungleich verteilt ist? Welche Versuche unternimmt die Regierung, um Zusammenhalt und Solidarität in der Gesellschaft zu fördern? Professor Dr. Lizette Jacinto vom Institut für Sozial- und Geisteswissenschaften Alfonso Vélez Pliego in der Stadt Puebla, Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates in Zentralmexiko, beantwortete uns diese und weitere Fragen im L.I.S.A.Interview.
"Keine autoritäre Politik bezüglich der Bekämpfung von COVID-19 in Mexiko"
L.I.S.A.: Professor Jacinto, Mexiko geht einen Sonderweg bei der Corona-Bekämpfung. Präsident Andres Manuel Lopez Obrador möchte keine radikalen Kontakt- und Ausgangssperren verhängen, um der ohnehin angeschlagenen Wirtschaft nicht noch mehr zu schaden. Doch wie sieht der Plan aus? Wie ist die Lage im Land und was sehen Sie als größte Herausforderung?
Prof. Jacinto: Die Politik der Regierung von Andrés Manuel López Obrador, die sich in ihrem zweiten Regierungsjahr befindet, konzentriert sich auf die Unterstützung der sozial Schwachen, der Verwundbarsten. In Mexiko gibt es laut INEGI[2] (2018) 52,4 Millionen Menschen, die in Armut leben. Das sind 41,9 Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommen weitere 7,4 Millionen Mexikaner, die in extremer Armut leben. Dieser Umstand war es vermutlich, der López Obrador dazu bewog, keine autoritäre Politik bezüglich der Bekämpfung von COVID-19 in Mexiko zu verfolgen, also Maßnahmen wie Ausgangssperre etc. gesetzlich vorzugeben, anders als in anderen lateinamerikanischen Ländern. So ist es beispielsweise Peru mit all den Restriktionen und staatlicher Gewalt nicht gelungen, den negativen Auswirkungen der Pandemie entgegenzuwirken. Zwar setzte sich die Regierung von López Obrador für einige Einschränkungen ein, um die Infektionskurve abzuflachen, doch blieben die meisten Geschäfte und Betriebe, vor allem die systemrelevanten, offen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen, die diese Gesundheitskrise mit sich bringt, sind unüberschaubar. Die mexikanische Regierung versucht, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Bekämpfung der Pandemie auf der einen Seite und den Versuchen, die unvermeidlichen wirtschaftlichen Schäden klein zu halten und frühzeitig zu begrenzen auf der anderen Seite. Schon jetzt gibt es Bestrebungen, die Wirtschaft im Lande wieder zu aktivieren. Trotz allem: Jüngsten Schätzungen zufolge wird es anderthalb Millionen mehr Arbeitslose nach der Pandemie in Mexiko geben.
In Mexiko haben wir seit Jahrzehnten Probleme mit dem Gesundheitszustand der Bevölkerung, ein Problem, das nun in Verbindung mit COVID-19 besonders deutlich wird: Diabetes, Bluthochdruck und Fettleibigkeit, also die Ko-Morbidität. Die Ernährung der Mexikaner hat sich seit dem NAFTA-Abkommen, das Mexiko mit den USA und Kanada in den 1990er Jahren unterschrieben hat, stark verschlechtert. Wir importieren seitdem viele Nahrungsmittel aus den USA, und diese sind reich an Zucker und ungesättigten Fettsäuren. Leider haben diese Produkte unsere Ernährungsweise verändert, was bis dahin nicht Teil der Lebensmittelzufuhr der Mexikaner war, wird nun auf täglicher Basis verzehrt und trägt dazu bei, die Anzahl der an Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht leidenden Menschen dramatisch zu erhöhen. Die negativen Folgen liegen auf der Hand, insbesondere jetzt in der Corona-Krise, in der eine gesunde Lebensweise und ein intaktes Immunsystem helfen. Aber es muss auch gesagt werden, dass keine Nation für so eine Pandemie wie die jetzige bereit sein kann.
So wie Sie in Deutschland den Virologen Dr. Christian Drosten haben, der Sie über die Pandemie auf dem Laufenden hält, spielt in Mexiko Dr. Hugo López-Gatell, der Unterstaatssekretär für Prävention und Gesundheitsförderung der mexikanischen Bundesregierung, eine führende Rolle. Er und sein Team starteten am 23. März die Kampagnen „Bleibt zu Hause!“ und „Susana Distancia“, ein Wortspiel, entstanden aus „Sana Distancia“ , „Gesunder Abstand“. „Susana“ ist hierbei ein weiblicher Charakter, der die Menschen dazu erzieht, Abstand zu halten. Dies hat Dr. López-Gattel einen gewissen Ruhm, aber auch viel Kritik gebracht. Denn in einem Land mit so ungleicher Verteilung des Vermögens ist es offensichtlich, dass es nur einer kleinen Oberschicht gestattet ist, „zu Hause zu bleiben“: Es gibt in Mexiko Millionen Menschen, die von Tag zu Tag leben, die keine Ersparnisse haben und dementsprechend nicht einen einzigen Tag ihre Arbeit unterlassen können.
Täglich stellt Dr. López-Gatell die Statistiken der 32 Bundesstaaten Mexikos vor. Auf diese Weise haben wir Daten über die Anzahl der Infektionen, Genesungen und auch über die Todesfälle, die sich derzeit leider auf über 10.000 belaufen. Kürzlich hatten wir den traurigen Rekord von 3.400 Neuinfizierten innerhalb von 24 Stunden. Allerdings werden sehr wenige Tests durchgeführt, weshalb keiner wirklich sicher sein kann, ob diese Zahlen stimmen oder nicht. Ab dem 1. Juni startet die Regierung eine neue Phase, die sogenannte „Neue Normalität“, die mittels eines Ampelplans eine gestaffelte Rücknahme der Einschränkungen plant, natürlich abhängig von den Umständen des jeweiligen Staates oder der jeweiligen Gemeinde.[3]