Als die Band „Kraftwerk“ 1981 von „Computerliebe“ und „Bildschirmtext“ sang, waren Praktiken der elektronischen Partnervermittlung keineswegs völlig neu. Lange vor der Ära des Online-Datings hatten Heiratsagenturen und Partnerschaftsvermittlungen in den USA und in Europa damit begonnen, den Computer einzusetzen, um die Märkte der „einsamen Herzen“ zu erobern. Im aktuellen Heft der „Zeithistorischen Forschungen“ untersucht Michael Homberg die Geschichte dieser elektronischen Kontaktvermittlung zwischen den 1950er- und den 1980er-Jahren. Wie änderten sich Vorstellungen von Liebe, Partnerschaft und Ehe im Zeitalter der „technokratischen Hochmoderne“? Welche Rolle spielte der Computer dabei als „Elektronen-Amor“ und „Matchmaking Machine“? Einerseits eröffnete das Computer-Dating gerade für Frauen neue Wege der Partnerwahl. Andererseits (re)produzierte es soziale, ökonomische, religiöse und kulturelle Trennlinien der Gesellschaft, weil die „Algorithmen der Liebe“ vornehmlich nach Übereinstimmungen suchten.
Die neue Ausgabe der Fachzeitschrift „Zeithistorische Forschungen“ (Heft 1/2020) ist ein „offenes“ Heft mit einem breiten inhaltlichen Spektrum. Neben der Geschichte der Computerisierung bildet auch die aktuelle Situation der „Digital History“ einen Schwerpunkt: In der Quellen-Rubrik finden sich mehrere Beiträge zum Thema „Geschichtswissenschaft und Archive im digitalen Zeitalter“, organisiert und eingeleitet von Frank M. Bischoff (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen) und Kiran Klaus Patel (Ludwig-Maximilians-Universität München). Das Ziel ist es dabei, die Geschichtswissenschaft noch stärker als bisher in einen Dialog mit Archivwissenschaft und Archivpraxis zu bringen; nicht nur, um die Digitalisierung weiter voranzutreiben, sondern gerade auch, um die methodische Reflexion beim Umgang mit digitalem Quellenmaterial auszubauen. Andreas Fickers (Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History), Nicola Wurthmann/Christoph Schmidt (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden/Landesarchiv Nordrhein-Westfalen) und Andrea Hänger (Bundesarchiv) geben hierfür Diskussionsanstöße.
Von generellem Interesse, nicht nur für Zeithistoriker/innen, sind sicher auch die beiden Essays des Hefts: Constantin Goschler (Ruhr-Universität Bochum) diskutiert die ambivalenten Effekte quantifizierter Forschung für die Geschichtswissenschaft: Welche Auswirkungen haben die gegenwärtig dominierenden Bewertungsmaßstäbe auf die Personalsituation, auf die Themenwahl und auf die Qualität der Zeitgeschichtsforschung? Georg Toepfer (Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin) geht der epochenübergreifenden Problemgeschichte des Schlüsselbegriffs „Diversität“ nach. Für das 20. Jahrhundert unterscheidet er ein „Selbstentfaltungsparadigma“, ein „Gerechtigkeitsparadigma“, ein „Marktparadigma“ und ein „Naturschutzparadigma“. Der Aufstieg von „Diversität“ zu einem „zentralen Hochwertbegriff“ erkläre sich gerade aus diesen breiten Anschlussmöglichkeiten.
In der Rubrik „Neu gelesen“ setzt sich Monika Dommann (Universität Zürich) mit Sigfried Giedions Buch „Mechanization Takes Command“ von 1948 auseinander. Neben vielen technikgeschichtlichen Details ist dieses Werk gerade in seiner ungewöhnlichen Gestaltungsform als „visuelle Historiographie“ interessant. Noch eine zusätzliche Aktualität hat das Buch dadurch gewonnen, dass sich Giedion eingehend dem Tabuthema der industrialisierten Tierschlachtung und Fleischverarbeitung widmete. Hier und auch in den weiteren Beiträgen des Hefts wird deutlich, wie sehr die Diskussion über Gegenwartsfragen vom Wissen um zeitgeschichtliche Zusammenhänge profitieren kann.
Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich im Open Access.