China ist für den transkulturell ausgerichteten Philosophiehistoriker und zugleich gegenwartsbezogenen Weltphilosophen ein höchst interessanter Ort. Hier bietet sich die Chance, die europäische Philosophietradition mit einer Tradition des Denkens transkulturell zu vergleichen, die aus anderen Ursprüngen gewachsen ist und die bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (Stichwort: jesuitische China-Mission) keine Fühlung mit der abendländischen Philosophie hatte.
China – und warum transkulturell komparative Philosophiegeschichtsforschung und interkultureller Dialog zählen
Auf dem komparativen „Umweg über China“ (François Jullien) lässt sich präzisieren, was das Charakteristische der europäischen Philosophietradition im Kanon der traditionellen Kulturen der Welt ausmacht. Dies ist von nicht zu unterschätzender stabilisierender Wirkung für die europäische Kulturtradition des Philosophierens: Wenn ich weiß, dass ich und wie ich mit (m)einem charakteristischen Erbe in der Welt stehe, vermag ich mich damit auch besser zu orientieren und dieses Erbe für nachfolgende Generationen von Interessierten lebendig zu halten.
Im komparativen Kontrast mit vielfach andersartigen Lösungswegen für ansonsten vergleichbare philosophische Grundprobleme auf chinesischer Seite geraten zudem oftmals inhaltliche Aspekte historischer abendländischer Philosophien in den Blick, die zuvor im intrakulturellen Diskurs kaum bis marginal besprochen wurden (z.B. das Thema der natürlichen Beziehungshaftigkeit und Generativität des Menschen).
Im Weiteren bietet andersherum erst der differenzbewusste Vergleich auch die Chance, einen möglichst unverstellten Blick auf die chinesische Denktradition zu bekommen. Wendet man sich nur der chinesischen Denktradition als solcher zu, ohne zuvor – oder besser noch: zugleich und parallel – die abendländische ausgiebig und tief zu studieren, so besteht leicht die Gefahr unbewusster bzw. zu vermeidender Projektionen gewohnter westlicher Begriffe und Denkmuster auf in Wirklichkeit vielfach divergierenden und differenzierter zu rekonstruierenden Reflexionen der historischen chinesischen Denktraditionen.
Kurz: Wenn man China denkerisch kennenlernen will, muss man zugleich auch die Tradition eingehend studieren, von der aus man intellektuell auf China zugeht: „Das Eigene will so gut gelernt sein wie das Fremde.“ (Friedrich Hölderlin)
Doch die Implikationen eines solchen Zugangs auf die chinesische Tradition sind nicht nur von rein akademischer Relevanz: Nach den wirtschaftlichen Reformen unter Deng Xiaoping, zeichnet sich in der VR China spätestens seit der Regierungszeit Hu Jintaos und in weiter verstärkter Weise unter Xi Jinping sehr deutlich im Bildungswesen und auch in vielen gesellschaftlichen Kontexten eine Rückkehr zum traditionellen chinesischen Denken und zu gesellschaftlichen Praxen ab, die mit traditionellen Texten und Vorstellungen verbunden sind. Diese Entwicklung vollzieht sich unter dem Schlagwort ‚Guoxue 国学‘, was man sehr direkt mit der französischen Wendung ‚études nationales‘ übersetzen kann.
Guoxue gliedert sich in vier Bereiche: (1) die Beschäftigung mit dem Kanon klassischer Schriften des Altertums, (2) das Studium der klassischen Geschichtsschreibung, (3) das Studium der traditionellen Philosophien und (4) die Auseinandersetzung mit vormoderner Literatur.
Guoxue ist im heutigen China längst keine Angelegenheit von akademischen Spezialisten mehr: In Spielwarengeschäften finden sich verschiedene Spielzeuge mit integrierten MP3-Playern für Vorschulkinder, in denen bereits klassische Kindertexte der konfuzianischen Tradition wie das Sanzijing 三字经 (‚Drei-Zeichen-Klassiker‘, 12. Jh.), die traditionell im Vorschulalter auswendig gelernt wurden (und wieder werden), voreingespeichert sind. Das offizielle Studium der grundlegenden Klassikerschriften beginnt mittlerweile bereits in der Grundschule, wo es im Curriculum fest verankert ist. Bis zum Abitur hört die Beschäftigung mit den traditionellen Texten nicht mehr auf. Im chinesischen Staatsfernsehen werden Schülerwettbewerbe zum Erkennen seltener Schriftzeichen aus Passagen klassischer Texte ausgestrahlt. Immer mehr chinesische Gymnasialklassen begehen anstelle einer kommunistischen Jugendweihe entsprechend ein traditionelles Ritual in traditioneller Hankleidung im konfuzianischen Tempel.
Auch im Falle eines späteren Hochschulstudiums technischer Fächer beispielsweise bleibt die Beschäftigung mit klassischer chinesischer Kultur im Sinne begleitender Vorlesungen heute an vielen chinesischen Universitäten (als eine Art studium generale) präsent. Geschäftsleute besuchen an Wochenenden Businessethikseminare in konfuzianischen Tempeln. Im chinesischen Staatsfernsehen werden eine Vielzahl an populärwissenschaftlichen Vorträgen renommierter Professorinnen und Professoren zu verschiedensten Themen der chinesischen Geschichte vor dem 20. Jahrhundert gesendet.
In diesem Zusammenhang kommt der transkulturell vergleichenden Philosophie und dem philosophischen Dialog zwischen Deutschland und China eine große Bedeutung zu: In der chinesischen akademischen Landschaft ist ein Diskurs entbrannt, inwiefern es sinnvoll ist, die dreitausendjährige chinesische Tradition der Philosophie und Politpraxis (wie bisher oftmals noch praktiziert) mit den Mitteln und am Leitfaden westlicher Philosophie zu reflektieren. Als ‚westlich‘ gilt dabei oftmals allerdings einseitig und mehrheitlich aufgrund der sonstigen sprachlichen Hürden das, was der englischsprachige Philosophiediskurs anbietet, der wiederum selber in großen Teilen die Rückbindung an die kontinentaleuropäische und z. B. auch die deutschsprachige Philosophietradition verneint.
Die Kenntnisse hinsichtlich der europäischen Tradition sind dabei auf chinesischer Seite im Durchschnitt zwar meistens noch besser als vergleichsweise die vieler westlicher bzw. deutscher Philosophen im Blick auf die chinesische Philosophietradition – allein, auch hier erreichen die Kenntnisse und das Verständnis des kulturell „Anderen“ in vielen Fällen noch nicht die für die weitere Zukunft wünschenswerte Tiefe. Dies führt dann in Folge derzeitiger „Abnabelungsversuche“ stellenweise wiederum zu grob vereinfachenden oder gar falschen inhaltlichen Annahmen, was denn abendländische Denktraditionen ausmache. Hier herrscht Arbeitsbedarf, denn in weiterer Folge werden stellenweise hinkende und grob vereinfachende Vergleiche europäischer und chinesischer Philosophie vorgenommen, die wiederum in Zukunft die Gefahr der Ausbildung von Ressentiments gegenüber der in China in weiten Teilen noch zu wenig verstandenen abendländischen Tradition begünstigen könnten.
So wertvoll sicherlich die Guoxue nach den Selbstzerstörungen der chinesischen Tradition im 20. Jahrhundert (Stichwort „Kulturrevolution“) als eine Art kultureller Heilungsprozess derzeit wirkt, umso mehr muss man meines Erachtens aufpassen, dass diese Entwicklung auch von westlicher Seite mit den Mitteln der komparativen Philosophie und des interkulturellen Dialoges begleitet wird und dass man zu einem gemeinsamen Dialog und Weg und Verständnis gelangt, das gerade auf der Wertschätzung der Unterschiede und der daraus resultierenden Bereicherung der Weltphilosophie beruht. Die Rückbesinnung Chinas auf seine Traditionen darf nicht Grundlage eines sich abkapselnden neuen chinesischen Nationalismus werden.
Daher sind die vergleichende Philosophiegeschichte und der interkulturelle Diskurs auch hier gefragt, um der chinesischen Seite während man sich in der chinesischen Denktradition professionalisiert zugleich die Vielfalt und den weiten historischen Horizont der europäischen Philosophien des Antike, des Mittelalters, der Frühen Neuzeit bis zum Anbruch der industriell basierten Moderne (transkulturell zusammenschauend und vergleichend) zu vermitteln. Dabei gilt es grob verzerrende und vereinfachende Antagonismen (z. B. der Westen=individualistisch vs. China=kollektivistisch) genauso zu vermeiden, wie einen alles zum Einerlei vernebelnden Drang nach falsch verstandener (Pseudo-)„Einheit“.
Nur indem man sich so intellektuell behände an dieser Skylla und jener Charybdis vorbeibewegt, können beide großartigen Traditionen des Denkens im Dialog lebendig erhalten werden und voneinander lernen, ohne ihre Eigenständigkeit und ihren über Jahrtausende erworbenen Reichtum aufgeben zu müssen.
Der erste Schritt auf diesem Weg besteht meines Erachtens darin, sich vermehrt auf China und die gegenwärtigen Diskurse zuzubewegen. Dies kann nur durch vergleichende Forschung und zugleich aneignende Auseinandersetzung historischer chinesischer Philosophien geschehen. Man muss sich aber auch vor Ort, d. h. nach China bewegen: Die Forschungsarbeit sollte in jedem Fall in direkter menschlicher Fühlung mit den Diskursen zur chinesischen Tradition vor Ort geschehen.
Der Autor des Vorliegenden bewegt sich seit mehr als sieben Jahren aktiv auf diesem Weg. Als Frucht dieser Zeit erschien 2015 die transkulturell komparative Dissertationsschrift „Wissendes Nichtwissen“ oder „gutes Wissen“. Zum philosophischen Denken von Nicolaus Cusanus und Wang Yangming, die auch von der Gerda Henkel Stiftung gefördert wurde.
Im September und Oktober 2015 hat der Autor während einer Tagungsreise zusammen mit Frau Bei Peng für das Wissenschaftsportal L.I.S.A. an einem Videoprojekt gearbeitet, um Einblicke in die derzeitigen Entwicklungen speziell im Bereich einer Renaissance konfuzianischer Kulturaspekte einmal exemplarisch zu dokumentieren. Das Video wird in Kürze im Portal zu sehen sein. Während der Reise wurden für das Projekt an verschiedenen Standorten Interviews geführt, die ein Schlaglicht auf eine wichtige akademische und darüber hinausreichende gesellschaftliche Entwicklung in der VR China werfen, die in Deutschland bisher kaum wahrgenommen wird.
Die erste Station der Reise war Mitte September 2015 der neu errichtete Konfuzius-Tempel mit umgebendem Parkareal sowie akademischen Forschungsstätten verschiedener renommierter chinesischer Universitäten in Guiyang (Hauptstadt der Provinz Guizhou in Südwestchina). Dort wurden Aufnahmen des Tempels und der Forschungsstätten gemacht. Der moderne Tempel ist nach traditionellen Proportionen gebaut, die Architektur verbindet moderne und traditionelle Elemente auf neuartige Weise. Im Tempelkomplex befindet sich zudem ein Museum, das die Geschichte des Konfuzianismus mit modernster Medientechnik vermittelt (u.a. mit 3-D-Projektionen usw.), ein Zentrum für traditionelle Musik, eine internationale Kunstausstellung zum Thema Konfuzius. Es wurden zwei Videointerviews geführt, die im Wissenschaftsportal L.I.S.A. zu sehen sein werden: eines mit der Sprecherin des Areals sowie eines mit einer Musikprofessorin der nahegelegenen Guizhou-Universität zu Fragen der klassischen (konfuzianischen) Musikkultur und Ästhetik.
Die zweite Station der Reise war die „7th Session of the World Confucian Conference“ in den Städten Qufu und Zoucheng in der Provinz Shandong. Qufu ist der Geburtsort des Konfuzius (Kongzi 孔子, 551-479 v.Chr.). Das etwa eine halbstündige Autofahrt entfernte Zoucheng ist der Geburtsort Menzius᾽ (Mengzi 孟子, um 370-290 v.Chr.). Im Rahmen der Teilnahme an der Konferenz (26.-29. September), bei der der Autor auch seine Dissertationsschrift zum Vergleich des Denkens des konfuzianischen Philosophen Wang Yangming (1472-1529) mit der Philosophie des deutschen Denkers Nicolaus Cusanus (1401-1464) präsentieren konnte, entstanden mehrere sehr interessante Interviews.
Einen Höhepunkt bildete zweifelsohne ein längeres Interview mit einem direkten Nachfahren des Konfuzius᾽ (75. Generation), der bereits vom amerikanischen Sender ABC, der BBC usw. interviewt wurde. Zudem wurden Interviews während des Young Doctor᾽s Forums geführt, das der Veranstaltung angegliedert war. Die Teilnehmer dieser Interviews kamen aus der Mongolei, Vietnam, Taiwan, Ägypten und der VR China. Im Rahmen eines Rituals zum 2566. Geburtstag des Konfuzius im Konfuziustempel in Qufu wurden weitere Aufnahmen erstellt; zwischendurch gelang ein Kurzinterview mit einem australischen Ex-Botschafter zu weltpolitischen Relevanz des neuen Konfuzianismus in China.
Den Abschluss der Reise bildete Anfang Oktober ein kurzer Aufenthalt in Beijing. Hier entstand ein Interview mit Prof. Dr. Chenshan Tian, der als amerikanischer Staatsbürger seit 2008 an der Beijing Foreign Studies University Philosophie und Vergleichende Politikwissenschaften lehrt. Das Interview dreht sich um die Möglichkeiten und die Bedeutsamkeit einer transkulturellen Philosophie im „Zwischen“ von chinesischen und europäischen Denkräumen.
Derzeit findet die Sichtung des Videomaterials statt und die Interviews und das sonstige Bildmaterial werden für einen passenden Zusammenschnitt vorbereitet. Der fertige Filmbeitrag wird dann wie gesagt vorliegend im Wissenschaftsportal L.I.S.A. der Gerda Henkel Stiftung erscheinen.
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Ihr Projekt interessiert mich aus zweierlei Gründen:
Erstens, weil ich mich als Schüler von Hans Blumenberg seit langem mit der Anthropologie des Cusaners beschäftigt habe und auf der Suche nach Parallelen zu seinem complicatio-explicatio-Theorem bin.
Zweitens, weil ich als Herausgeber des Reclam-Bändchens Konfuzius, Das Buch von Maß und Mitte gern gewusst hätte, ob meine Sichtweise auf den Konfuzianismus in der VR China heute noch geteilt wird. Ich bin nur ein Hobby-Sinologe und wäre daher für eine kritische Stellungnahme dankbar.
Mit besten Grüßen,
FF