Deutschland und Frankreich, die heute als treibende Kraft der Europäischen Union gelten und seinerzeit zu den Initiatoren der EU-Gründung zählten, blicken auf eine lange Geschichte zurück. Diese ist unter anderem geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen; standen sich die Nachbarländer doch nicht nur in den beiden Weltkriegen 1914-1918 und 1939-1945, sondern bereits 1870/71 auf den Schlachtfeldern gegenüber. Mit dem sogenannten Bruderkrieg, wie der Deutsch-Französische Krieg auch gemeinhin bezeichnet wird, haben sich Hermann Pölking und Linn Sackarnd beschäftigt. Entstanden ist eine Publikation sowie eine drei-teilige Dokumentaiton, die auf dem deutsch-französischen TV-Sender Arte ausgestrahlt wurde. Wir wollten von den beiden Publizisten und Filmemachern wissen, wie das Projekt entstanden ist auch, was das Besondere an den Deutsch-Französischen-Beziehungen war und ist, wenn einerseits von Brüdern, andererseits jedoch auch von einer Erbfeindschaft gesprochen wird.
"In die Sichtweise der „anderen Seite“ hineinversetzen"
L.I.S.A.: Herr Pölking, Frau Sackarnd – Sie haben gemeinsam die Publikation „Der Bruderkrieg, Deutsche und Franzosen 1870/71“ veröffentlicht. Zu Beginn meine Frage: Wie ist das Projekt entstanden und liegt der Publikation ein persönliches Interesse zugrunde?
Pölking/Sackarnd: Im Jahr 2011 haben wir erstmals gemeinsam über eine gleichzeitige Buch- und Filmproduktion zum Thema „Deutsch-Französischer Krieg von 1870/71“ nachgedacht und mit der Literaturrecherche für das Buch begonnen.
Pölking: Mein besonderes Interesse ist die Geschichte und die Folgenhaftigkeit des deutschen Partikularismus mit seinen weit zurückreichenden und oft dynastischen Ursprüngen. Für die Geschichte der deutschen „Länder“ und „Staaten“ sind die Jahre 1866 bis 1871 von immenser Bedeutung. Ohne die Kenntnis der staatlichen Verhältnisse dieser Zeit sind der Krieg von 1870/71, aber auch der deutsche Föderalismus heute, kaum zu verstehen. Und wer die partikularistische deutsche Geschichte der letzten 350 Jahre mit der zentralistischen französischen vergleicht, für den fokussiert sich der Blick auf die deutsche Geschichte anders.
Sackarnd: Ich bin Frankreichwissenschaftlerin mit französischer Großmutter, habe einige Zeit in Frankreich gelebt. Mich hat besonders interessiert, herauszuarbeiten, mit welchem „Frankreich“ man es 1870 eigentlich zu tun hat. Wir sprechen immer von den großen Mentalitätsunterschieden zwischen Preußen und Bayern, Sachsen und Badenern usw. Frankreich ist zwar 1870 eine geeinte Nation, aber dahinter verbirgt sich ein ebenfalls tiefer Regionalismus, eine Sprachenvielfalt. Eine konkrete Vorstellung eines abstrakten französischen Nationalgefühls haben 1870 längst nicht alle Französinnen und Franzosen. Spannend fand ich auch, wie unterschiedlich dieser Krieg beiderseits des Rheins wahrgenommen wurde.
Pölking/Sackarnd: Dieser Unterschied ist nicht nur während des Krieges greifbar, sondern auch in seinen Nachwirkungen. Für diese erheblichen Nachwirkungen blieb – trotz der über 600 Seiten – aufgrund unserer breiten Erzählweise leider kein Platz mehr im Buch. Man kann eigentlich erst richtig begreifen, mit welchem „Erinnerungsgepäck“ die Gesellschaften, die einzelnen Soldaten und im Hintergrund ihre Familien in den Ersten Weltkrieg gezogen sind, wenn man sich mit 1870/71 und seinen Folgen beschäftigt hat. Das gilt ganz besonders für die Verhältnisse in Frankreich. Man sollte auch immer versuchen, sich in die Sichtweise der „anderen Seite“ hineinzuversetzen, und dafür ist eine Auseinandersetzung mit den Quellen beider Seiten unabdingbar.