Der Künstler Joseph Beuys und der Philosoph Friedrich Nietzsche gehören zu den prägendsten Figuren nicht nur ihrer Disziplinen, sondern ihrer Zeit insgesamt. Auf den ersten Blick scheinen sowohl die Tätigkeitsbereiche als auch das jeweilige historische Umfeld beide Biographien stark voneinander zu trennen. Die Kunsthistorikerin Dr. Kirsten Voigt von der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe zeigt indes, dass weder der historische noch der thematische Abstand zwischen Nietzsche und Beuys besonders groß ist. Im Gegenteil: Beuys kam nur knapp zwanzig Jahre nach Nietzsches Tod auf die Welt und wurde zu einem intensiven Nietzsche-Leser. Die Lektüre des Philosophen hat den Künstler mit Blick auf dessen Œuvre entscheidend geprägt. So jedenfalls die These in Kirsten Voigts Forschungsprojekt über die Nietzsche-Rezeption bei Beuys, das von der Gerda Henkel Stiftung gefördert wurde und dessen Ergebnisse inzwischen in Buchform vorliegen. Wir haben ihr unsere Fragen gestellt.
"Der historische Abstand zwischen Nietzsche und Beuys ist nicht so groß gewesen"
L.I.S.A.: Frau Dr. Voigt, Sie haben sich mit Joseph Beuys‘ Nietzsche-Rezeption beschäftigt. Die Ergebnisse Ihrer Forschung sind jüngst in dem Band „Joseph Beuys liest Friedrich Nietzsche. Das autopoietische Subjekt“ erschienen. Bevor wir uns inhaltlich in Ihre Arbeit vertiefen – was hat Sie zu diesem Forschungsprojekt bewogen?
Dr. Voigt: Schon vor rund 20 Jahren habe ich im Werk von Joseph Beuys eindeutige Spuren dafür entdeckt, dass Beuys sich intensiv mit Friedrich Nietzsche auseinandergesetzt haben muss. Beuys ist ein Künstler, der sich von Beginn an auch um eine theoretische Fundierung seines bildnerischen, performativen und sozial relevanten Handelns bemüht hat. Dass er sich mit Philosophie und Philosophen auseinandergesetzt hat, geht allein aus vielen Zitaten in seinen Zeichnungen, Diagrammen, Vorträgen und Reden hervor. Beuys selbst erwähnte anlässlich seiner ersten Museumsausstellung 1961 in Kleve in einem biographischen Notizzettel, der im Katalog publiziert wurde, dass Nietzsche und Goethe für ihn die einzigen, erwähnenswerten „literarischen Einflüsse“ während der Kriegszeit gewesen seien. Es gibt von Joseph Beuys eine prominente Arbeit aus dem Jahr 1978, in der er das berühmte Porträt des geistig schon umnachteten Nietzsche von Hans Olde zitiert („Sonnenfinsternis und Corona“ betitelt). Und es existiert eine Zeichnung aus dem Jahr 1954 mit dem Titel „Zarathustra“. Außerdem hat sich Beuys in einer Vielzahl von Interviews zu Nietzsche geäußert – manchem zustimmend, manches klar ablehnend. Von den Interviewpartnern wurde Beuys häufig auf Gedanken dieses Philosophen angesprochen – auch weil man im Ausland ihm gegenüber zu jener Zeit viel weniger Berührungsängste hatte als hierzulande. Bataille, Foucault, Barthes und Deleuze haben sich emphatisch zu Nietzsche bekannt. Er gilt auch als Vater der Performativität und war insofern für die Entwicklung der Performance- oder Aktionskunst insgesamt von Belang. Beuys‘ Äußerungen verraten eine differenzierte Kenntnis verschiedener Aspekte von Nietzsches Denken – fern von Klischees, ohne Berührungsängste, ohne Idealisierungen. Ein bildender Künstler, der sich im 20. Jahrhundert auch mit Philosophie, mit Fragen einer Erneuerung der Kunst oder der Idee des Gesamtkunstwerks und der Rolle des Individuums in der Moderne befasst, kommt an Nietzsche nicht vorbei. Beuys wird 21 Jahre nach dem Tod von Friedrich Nietzsche geboren – das muss man sich vor Augen halten. Der historische Abstand ist nicht so groß gewesen, wie er von heute aus erscheinen mag. Weitere 20 Jahre später – im Jahr 1941 – besucht Beuys das Nietzsche-Archiv in Weimar und dort entsteht ein Frühlingsgedicht, in dem er, sehr vorläufig, fragmentarisch und suchend, aber doch auch in einer sehr eigenständigen Synthese Gedanken Nietzsches und Goethes zusammenführt. Das Apollinische, das Dionysische und das Faustische tauchen in diesem Gedicht direkt nebeneinander auf. Viele Spuren waren also früh evident, die ich endlich verfolgen wollte. Erst das Forschungsstipendium der Gerda-Henkel-Stiftung – das möchte ich hier noch einmal in wirklich großer Dankbarkeit betonen – und natürlich der Joseph Beuys Estate Düsseldorf, der mir Einblick in Beuys‘ Nietzsche-Schriften gewährte, haben es möglich gemacht, nun zu zeigen, was genau Beuys gelesen hat, also mögliche weitere Quellen für Werke, für theoretische Äußerungen zu finden.