In der Institution des Betriebsrates manifestiert sich ein zentraler gesellschaftlicher und politischer Konflikt: Freiheit oder Sicherheit? Der Historiker Dr. Klaus Neumann hat sich in diesem Zusammenhang der Frage angenommen, wie sich in Wirtschaftsunternehmen beide Konzepte zueinander verhalten. Wie lässt sich der Anspruch auf soziale Sicherheit, beispielsweise auf einen sicheren Arbeitsplatz, mit der vielbeschworenen unternehmerischen Freiheit vereinbaren? In seinem Dissertationsprojekt untersuchte Dr. Klaus Neumann dazu die Geschichte der Betriebsdemokratie und Betriebsräte in Deutschland und in Schweden für den Zeitraum von 1880 bis 1950. Nun liegt sein Buch mit dem Titel Freiheit am Arbeitsplatz vor. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Betriebe sind Orte, an denen sich Menschen 'vergesellschaften'"
L.I.S.A.: Herr Dr. Neumann, Sie haben in Ihrem Dissertationsprojekt Betriebsdemokratie und Betriebsräte in Deutschland und Schweden zwischen 1880 und 1950 untersucht und diese miteinander verglichen. Nun ist auch das entsprechende Buch mit dem Titel „Freiheit am Arbeitsplatz“ erschienen. Gibt es für Arbeitnehmer überhaupt Freiheit am Arbeitsplatz, wenn man davon ausgeht, dass Betriebe oder Unternehmen üblicherweise hierarchisch organisiert sind und zudem ein Herrschaftsregime darstellen, bei dem es in der Regel eher nicht demokratisch zugeht? Welche Freiheit meinen Sie genau?
Dr. Neumann: Wenn Sie feststellen, dass es in den Unternehmen "nicht demokratisch zugeht", beschreiben Sie ja nicht nur einen Ist-Zustand, sondern auch ein Weltbild, das in unserer heutigen Gesellschaft recht fest etabliert ist: Auf der einen Seite ist die Demokratie, die klar dem Bereich des "Politischen" zugeordnet wird: mit einem Wahlvolk, Parteien, Parlamenten. Auf der anderen Seite, und davon scheinbar abgelöst ist die Welt der Wirtschaft. In dieser sind Betriebe in erster Linie Orte, in denen etwas produziert wird. Erst in zweiter Linie werden Betriebe auch als Orte gesehen, an denen sich Menschen "vergesellschaften", also miteinander in Interaktion treten. Wenn es um die reine Produktion geht, liegt die Frage, wie die Beschäftigten ihr Miteinander im Betrieb regeln könnten, natürlich nicht auf der Hand. In einer so definierten betrieblichen "Arbeitswelt" spielen auch Konzepte von Demokratie scheinbar kaum eine Rolle. Als Historiker wurde ich an dieser Stelle neugierig. Betrachtet man das späte 19. und das 20. Jahrhundert, merkt man nämlich schnell: Das war nicht immer so. Eine klare Trennung zwischen demokratischer Politik einerseits und demokratiefreier Wirtschaft andererseits existierte lange Zeit nicht. Immer wieder wurde gefordert und teilweise auch rechtlich implementiert, dass es auch in Betrieben "demokratisch" zugehen müsse.
Mit dem Begriff "Herrschaftsregime" haben Sie einen anderen wichtigen Begriff genannt, mit dessen Hilfe man gedanklich vom Betrieb als Ort des Produzierens zum Betrieb als Ort, in dem es auch um Freiheit geht, gelangen kann. Hier lässt sich auf die Erkenntnisse der Betriebssoziologie, deren bekanntester deutschsprachiger Vertreter Ralf Dahrendorf gewesen sein dürfte, zurückgreifen. Diese Forschungsrichtung beschrieb schon in den 1960er und 1970er Jahren, dass Betriebe nie nur Orte des Produzierens und der sozialen Zusammenkunft sind, sondern immer auch Herrschaftsräume. Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt hin zum Thema Betriebsräte: Denn geherrscht wird in Betrieben, zumal in Großbetrieben, weniger auf der Grundlage spontaner Eingebungen des Unternehmers bzw. der Unternehmerin heraus, sondern durch formalisierte oder informelle Spielregeln, die man wissenschaftlich "Institutionen" nennt. Diese Institutionen sind nichts anderes als geronnene, als legitim anerkannte Machtverhältnisse. In meinem Buch betrachte ich die Betriebsräte als eine der wichtigsten derjenigen Institutionen, die darüber entscheiden, wer im Betrieb wie viel Macht hat.
Bleibt noch der Zusammenhang zwischen "Herrschaft und Freiheit" im Betrieb zu erklären. Freiheit bedeutet, einer einfachen Definition zufolge, das zu tun, was man selbst will, also nicht dem Willen anderer unterworfen zu sein. Der Begriff der Selbstbestimmung ist ein gutes Synonym für diese Kernbedeutung jeder Freiheitsdefinition. In Reinform kommt das natürlich höchst selten vor. Deshalb sollten Historiker meiner Meinung nach auch von konkreten Freiheiten (im Plural!) konkreter Akteure oder Akteursgruppen sprechen, wann immer sie die Ebene der Ideengeschichte verlassen und die Wirkung dieser Ideen auf die Handlungsspielräume der Menschen beschreiben. In meinem Fall lautet die historische Frage dann "nur" noch: Wessen Freiheiten wurden in welcher Weise durch den Betriebsrat tangiert?