Angesichts einer Politik, die nach der Grenzöffnung 2015 die Hürden für Migrierende und Flüchtende wieder kontinuierlich höher zieht und zunehmend auf Abschiebungen setzt, um Handlungsinitiative zu beweisen, ist es sinnvoll, sich einige basale Tatsachen über Krieg und Vertreibung an den europäischen Außengrenzen vor Augen zu führen. Dafür lohnt sich ein Blick auf die Arbeit von Philippe Rekacewicz, der als Kartograph für die monde diplomatique tätig ist und Anfang 2017 sein Projekt einer „cartographie radicale“ am Global South Studies Center der Universität zu Köln vorgestellt hat (vgl. www.monde-diplomatique.fr/cartes).
Basale Tatsachen. Ein Zwischenruf der „radikalen Kartographie“ zur Migrationsdebatte
a.r.t.e.s.-Juniorprofessor Dr. Martin Zillinger
An diesen Karten wird mit Wucht etwas deutlich, was schon lange nicht mehr für diskussionswürdig erachtet wird: Die Produktion von Waffen und die ‚Produktion’ von Flüchtlingen sind unmittelbar miteinander verknüpft. Die europäische Außengrenze verläuft zwischen zwei Regionen, die durch die Zirkulation von Waffen und Flüchtlingen gewalttätig miteinander verknüpft sind. Auf der einen Seite finden wir die Region gewaltsamer Konflikte und Kriege, die in einem großen Bogen von Afghanistan über den Nahen Osten bis nach Somalia und ins Innere Afrikas reicht. Auf der anderen Seite der Grenze finden wir die Regionen, in der ein Großteil der Waffen hergestellt wird, die diese Kriege und Konflikte am Laufen halten, die sich aber zunehmend weigern, die Flüchtenden aus diesen Konflikten aufzunehmen: Europa zusammen mit Russland und den USA.
Rund 2/3 aller Geflüchteten, die 2016 versucht haben, über das Mittelmeer oder auf dem Landweg nach Deutschland zu kommen, stammen aus den Ländern, in denen europäisch hergestellte Waffen im großen Stil zur Anwendung kommen: Afghanistan, Syrien und dem Irak (dazu kommen (Nord-)Nigeria und Regionen in Ostafrika). Die gegenwärtige Diskussion um Identitätsverschleierung bei Flüchtlingen verschleiert in erster Linie die Unfähigkeit der europäischen Politik, Antworten auf die immensen Bevölkerungsbewegungen in Nordafrika und dem Mittleren Osten zu finden, und den fehlenden politischen Willen, die basalen Tatsachen zu verändern, durch die das Mittelmeer eine der tödlichsten Grenzen der Welt geworden ist. An den Karten Rekacewicz’ wird deutlich, dass es im höchsten Maße zynisch ist, das Problem in den Flüchtenden zu sehen und sie so implizit für die gegenwärtigen Migrationsdynamiken verantwortlich zu machen. Der zuletzt in Deutschland und Europa diskutierte Lösungsvorschlag, die Grenze Mittelmeer durch Flüchtlingslager in diktatorisch regierte Staaten und Krisenregionen vorzuverlegen, würde nur Missbrauch, Gewalt und Abhängigkeit verstärken, die das Leben der Menschen in der (erzwungenen) Migration schon jetzt unerträglich machen. Deswegen kann nur die Schaffung legaler Migration und Grenzüberschreitung die Antwort auf die sogenannte Flüchtlingskrise sein: Durchlässigkeit schafft Kontrolle.
Was bei dieser Zusammenstellung fehlt, sind Karten, die illustrieren, warum sich so viele Menschen auch aus Regionen auf den Weg machen, die nicht von Krieg und Vertreibung betroffen sind, und die von der europäischen Migrationspolitik mit Flüchtlingen wortwörtlich in ein Boot gezwängt werden. Bereits vor dreißig Jahren hat der Sozialphilosoph und Ethnologe Ernest Gellner weitsichtig die Situation der Menschen beschrieben, die „in die Schmelztiegel der städtischen Slums gesogen wurden, [und sich] danach [sehnen], in einem der kulturellen Zentren aufzugehen, die bereits einen eigenen Staat besitzen oder ihm nahe zu sein scheinen, mit dem daraus folgenden Versprechen auf volle kulturelle Bürgerrechte, auf Zugang zu Schulen, Arbeitsplätzen und allem anderen.“ (Gellner 1993 [1983]). Die Probleme vor Ort sind vielschichtig. Doch solange die europäische Wirtschaftspolitik durch hoch subventionierte Exporte dazu beiträgt, ganze Wirtschaftszweige im globalen Süden zu zerstören, wird auch die Armuts- und Wirtschaftsmigration nicht abnehmen. Den jungen Menschen, die darauf brennen, ihre ehrgeizigen Lebensziele in Europa auf die Probe zu stellen, sollten die europäischen Gesellschaften helfen, ihren Ehrgeiz so zu verwirklichen, dass sie dazu beitragen, die kommenden sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen auch auf dieser Seite des Mittelmeers zu lösen. Das erfordert ein Umdenken in der (Flüchtlings-) Politik, doch ein Perspektivwechsel lohnt sich, denn die Migrationszahlen werden auf absehbare Zeit nicht abnehmen und die Gesellschaften Europas werden zur Gestaltung ihrer Zukunft Hilfe brauchen.
Martin Zillinger ist Juniorprofessor der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne.
Literatur
Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991 [engl. Orig. 1983].
Martin Zillinger 2016: „Nafri“ als Symbol für die Flüchtlingskrise? Marokkanische Perspektiven auf Euro-Mediterrane Migration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 33–34, Maghreb, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Beilage zu Das Parlament, S. 47–54.