Das Begriffsensemble aus "Barbar", "Barbarei" und "Barbarentum" gehört zum sprachlichen Inventar Europas und zählt zu den prägendsten der europäischen Geschichte. Von Beginn an zielten diese Begriffe auf das Andere, von dem man sich abgrenzte, weil es auf einer vermeintlich niederen Kulturstufe stehe als man selbst. Gerade deshalb war dieses Begriffsensemble für alle Formen kolonialer Aneignung genauso konstitutiv wie das europäische Verständnis vom "Naturzustand" - so jedenfalls die These des Politikwissenschaftlers PD Dr.Oliver Eberl von der Leibniz Universität Hannover in seinem aktuellen Buch Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus. Erweitert wird diese Feststellung um die Beobachtung, dass sich die Semantik rund um "Barbarei" seit der Frühen Neuzeit um eine zusätzliche Bedeutung erweitert hat: um ein "kritisches Barbareiverständnis", das nicht mehr nur auf die anderen zielt, sondern gegen die eigene Gruppe gewendet werden konnte. Wie das genau gemeint und zu verstehen ist, dazu haben wir Oliver Eberl unsere Fragen gestellt.
"Warum also nicht die Hinweise auf Amerika einmal wörtlich nehmen?"
L.I.S.A.: Herr Dr. Eberl, Sie haben jüngst Ihr Buch "Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus" veröffentlicht. Darin geht es Ihnen im Wesentlichen um eine kritische Reflektion politischer Theorien, in denen die Konzepte "Naturzustand" und "Barbarei" konstitutiv sind. Bevor wir dabei zu einigen Einzelheiten kommen - warum haben Sie sich dieses Themas angenommen? Welche Beobachtungen und Vorüberlegungen gingen dem voraus?
PD Dr. Eberl: Am Anfang meiner Überlegungen stand die Beobachtung, dass es die Gesellschaftsvertragstheorien möglicherweise ernst meinen könnten mit der Beschreibung eines Naturzustandes, der in den Debatten der Politischen Theorie und Philosophie immer als Abstraktion oder als Beschreibung einer Gesellschaft im Bürgerkrieg verstanden wird. Was, wenn der Satz von John Locke, „In the beginning all the world was America“, nicht metaphorisch, sondern wörtlich gemeint ist? Ein wenig Recherche brachte dann auch eine Menge Hinweise auf die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Geschehen in Amerika bei Autoren der Frühen Neuzeit und erst recht der Aufklärung. Der Kolonialismus war kein Nebenthema, sondern von höchster Relevanz für die Bearbeitung theoretischer Fragen und für diese Fragen selbst. Noch dazu waren Philosophen auch in die Arbeit von kolonialen Handelsgesellschaften involviert. Sie wussten, in einem Zeitalter des Kolonialismus zu leben, viele hielten Aktien oder waren beruflich mit kolonialen Unternehmungen befasst. Schon meine Beschäftigung mit Kant hatte gezeigt, dass es eine ungeheure Menge an detaillierten Auseinandersetzungen mit dem Geschehen in den Kolonien und dem Kolonialismus gegeben hat und es einfach unplausibel erscheint, dies nicht auch für frühere Theoretiker wie Hobbes oder Rousseau anzunehmen. Bei Völkerrechtsautoren wie Las Casas und Vitoria ist das ja unmittelbar evident. Warum also nicht die Hinweise auf Amerika einmal wörtlich nehmen? Dazu fanden sich glücklicherweise auch schon gründliche Arbeiten, so dass ich mich auch bestätigt finden und daran anschließen konnte. Allerdings fand ich keine Hinweise darauf, was passiert, wenn man die ethnologische Perspektive ernst nimmt: Was bedeutet es für die Begründungsleistung und unser Bild vom Staat, die zugrundeliegende Beschreibung des Naturzustands in Frage zu stellen?
Die zweite wesentliche Beobachtung war der unterschiedliche Gebrauch des Begriffs „Barbarei“. Er wird von der Antike bis zur Debatte von Vallodolid 1551 eindeutig als abwertender Begriff in interkulturellen Kontexten verwendet. Auch im 19. Jahrhundert unterscheidet die liberale politische Philosophie „barbarische“ und „halb-barbarische“ Gesellschaften von „zivilisierten“. Wie war dieser Begriff mit der gesellschaftskritischen und antifaschistischen Beschreibung von Deutschlands „Rückfall in Barbarei“ 1933 in Übereinstimmung zu bringen oder wie stand er damit im Zusammenhang? Ich wollte verstehen, wie sich dieser Wandel vollzogen hatte. Eine Erklärung fand ich bei Kant, denn er richtet den Begriff der „Barbarei“ auf uns selbst, indem er die europäischen Staaten für ihre Weigerung, vom Krieg zu lassen, als „barbarisch“ kritisiert. Gleichzeitig wendet er sich gegen die Bezeichnung der Nicht-Europäer als „Barbaren“. Er vollzieht damit die Wende zu einem kritischen "Barbarei"begriff, der bis ins 20. Jahrhundert reicht.
Damit war meine Frage-Perspektive klar: Inwiefern hängen die ethnographischen Vorannahmen von Naturzustand und "Barbarei" zusammen und wie lässt sich dieser Zusammenhang in der Theoriegeschichte nachvollziehen?