"Klassiker", "Standardwerk", "Opus magnum" – das sind einige der gängigen Urteile über Thomas Nipperdeys umfangreiche „Deutsche Geschichte“, die zwischen 1983 und 1992 in drei Bänden erschien. Der Historiker Paul Nolte hat sich nun das Werk herausgegriffen, um daran eine Analyse geisteswissenschaftlicher Wissensproduktion zu vollziehen. Herausgekommen ist dabei die „Biographie eines Buches“, wie der Untertitel von Noltes Monographie lautet. Was aber macht Nipperdeys Werk so bedeutsam, dass man ein ganzes Buch darüber schreibt? Inwieweit steht es exemplarisch für eine bestimmte Wissenschaftstradition und worin besteht sein nachhaltiger Wert?
"Meine eigene Biographie, um die Ecke gedacht"
L.I.S.A.: Herr Professor Nolte, Sie haben die „Biographie eines Buches“ geschrieben. Was versprachen Sie sich von dieser Herangehensweise und warum fiel Ihre Wahl auf Nipperdeys „Deutsche Geschichte“?
Prof. Nolte: Biographische Geschichtsschreibung boomt und hat auch mich, trotz meiner Herkunft aus der Sozialgeschichte der „Bielefelder Schule“, zunehmend gereizt. In der Biographie des Werkes spiegelt sich der Autor – also: Biographie „um die Ecke gedacht“. Aber dann ist da auch wieder die ganz enge, manchmal geradezu existentielle Verflechtung von Leben und Schreiben, in der Wissenschaft nicht anders als in der schönen Literatur, aber für die Geisteswissenschaften viel weniger untersucht. Überhaupt: der Boom der Wissensgeschichte spielte eine wichtige Rolle. Wir fragen nicht mehr einfach: Was war im 19. Jahrhundert? – und lesen dann Nipperdey oder Wehler, oder jetzt Osterhammel in globaler Perspektive. Sondern: Woher wissen diese Koryphäen das eigentlich, was sie da aufschreiben? Warum definiert ihre Auswahl der „Fakten“, ihr Narrativ einen Standard im Fach und in einer breiteren Öffentlichkeit? – Mit Nipperdeys Werk bin ich sozusagen akademisch aufgewachsen, und nicht zuletzt: Er war der große Antipode meines Lehrers Hans-Ulrich Wehler. Also auch insofern: meine eigene Biographie, um die Ecke gedacht.