Den seit Jahren andauernden Krieg in Syrien kennzeichnen neben Tod, Zerstörung, Elend und Flucht eine große Unübersichtlichkeit und viele Missverständnisse. Als Medienkonsument ist man kaum noch in der Lage, die Frontstellungen, die verschiedenen Konfliktparteien und die sich wechselnden Koaltitionen auseinanderzuhalten. Zur allgemeinen Verwirrung tragen nicht zuletzt Begrifflichkeiten bei, die im besten Fall unwissentlich falsch verwendet werden, so beispielsweise die Begriffe Alawiten, Aleviten und Nusairier sowie Schiiten und Sunniten. Der Islamwissenschaftler Dr. Necati Alkan von der Universität Bamberg arbeitet zurzeit zur Geschichte der Nusairier im Spätosmanischen Reich. Wir haben ihn um die Erläuterung wichtiger Begriffe aus dem Umfeld des Syrien-Kriegs gebeten.
"Das Alawitentum und das Alevitentum sind zwei verschiedene religiöse Traditionen"
L.I.S.A.: Herr Dr. Alkan, Sie befassen sich in Ihrem aktuellen Forschungsprojekt mit der Geschichte der Nusairier, einer schiitischen Sondergemeinschaft mit Hauptsiedlungsgebiet in Kilikien und Westsyrien, in der Zeit zwischen 1840 und 1918, also in der Zeit des Spätosmanischen Reiches. Die Nusairier sind die heutigen Alawiten in Syrien, nicht zu verwechseln mit den Aleviten in der Türkei. Die Begrifflichkeiten sind für Laien kompliziert, so geht auch in der medialen Berichterstattung über die aktuelle Situation in Vorderasien vieles durcheinander. Können Sie Nusairier, Alawiten und Aleviten kurz für uns auseinanderhalten?
Dr. Alkan: „Alawi“ und „Alevi“- man sagt auch Alawite und Alevite - sind eigentlich das gleiche Wort, das erste ist Arabisch ausgesprochen und das zweite Türkisch. Beides wird von „Ali“ abgeleitet: es ist jemand der Imam Ali, dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten Muhammads folgt und ihn verehrt, also ein „Ali-Anhänger“. Jemand der Ali folgt ist Schiite, und somit sind wir bei der Kernfrage, die die Sunniten von den Schiiten unterscheidet: wer ist der rechtmäßige Nachfolger von Muhammad?
Die Mehrheit der Muslime, die Sunniten, berufen sich auf den „Kalif“ (arab. chalifa, „Stellvertreter/Nachfolger“), also eine fähige Person, die die Muslime führt und anfangs durch Konsens gewählt oder ernannt wurde. Die ersten drei Kalifen Abu Bakr, Umar und Uthman waren Gefährten des Propheten. Ihnen folgte Imam Ali als der vierte Kalif. Diese vier sind für die Sunniten die „rechtgeleiteten Kalifen“. Demnach wird Ali von den Sunniten nur als solcher anerkannt. In späteren Dynastien, z.B. bei den Umajjaden und Abbasiden, wurde das Kalifat vererbt; Söhne, Brüder oder Vettern konnten ernannt werden. Die letzten Kalifen waren die Sultane der Dynastie der Osmanen. Das Kalifat wurde 1924 von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der säkularen Republik der Türkei, abgeschafft.
Die meisten Schiiten indessen anerkennen die ersten drei Kalifen nicht und behaupten, dass die rechtmäßigen Nachfolger aus der Familie des Propheten stammen sollten. Sie berufen sich auf mündliche Überlieferungen (hadith). Da Muhammad keinen überlebenden Sohn hatte, den er hätte ernennen können, wurde zunächst Ali als Nachfolger ernannt und später die Söhne aus seiner Ehe mit Fatima, der Tochter Muhammads. Ali, seine Söhne und deren Söhne etc., sind die „Imame“ (arab. „Vorsteher“). Die Schiiten folgten somit dem „Imamat“. Die Imame, insgesamt 12 an der Zahl sind für die Schiiten unfehlbar. Mit Schiiten sind die „Zwölfer-Schiiten“ gemeint, die es hauptsächlich im Iran und im Irak gibt. Es gibt auch Schiiten, die sich bis heute auf weniger oder mehr Imame berufen.
Obwohl sich die arabischen Alawiten in Syrien und die türkischen und kurdischen Aleviten in der Türkei auf Imam Ali und die nachfolgenden elf Imame berufen, sind das Alawitentum und das Alevitentum zwei verschiedene religiöse Traditionen. Das Alevitentum ist eine Religionsgemeinschaft, die im 13./14. Jahrhundert in Anatolien entstanden ist und hat schiitische Wurzeln; es sind aber auch vorislamische schamanistische Elemente aus Zentralasien und anderen religiösen Traditionen wie dem Christentum, enthalten. Das Alevitentum wurde von Mystikern („Sufis“) geprägt und die Literatur und Litanei ist auf Türkisch. Es ist eine offene Gemeinschaft, Frauen und Männer sind gleichwertig, beide beteiligen sich an religiösen Zeremonien. Die fünf Grundregeln des Islam, u.a. das Ritualgebet in der Moschee, das Fasten im Ramadan oder die Pilgerfahrt, werden esoterisch ausgelegt und nicht praktiziert. Der Koran ist nach Ansicht der Aleviten verfälscht worden und wird nicht akzeptiert. Sie gehen nicht in die Moschee, sondern vollziehen ihre rituellen Tänze als Gottesdienst im „Haus der Versammlung“ (cemevi/dschemevi). Bis heute werden die Aleviten und ihre cemevis nicht offiziell vom türkischen Staat anerkannt.
Das Alawitentum hingegen ist arabischen Ursprungs und im 9. Jahrhundert innerhalb des schiitischen Islams im Irak entstanden. In der Schia gab es damals verschiedene Strömungen, die die Göttlichkeit der Imame hervorhoben. Vor allem Imam Ali wurde als göttliche Inkarnation oder Gott selber angesehen, der alles erschaffen hat und der dem Prophet Muhammad übergeordnet war. Aufgrund dieser Lehre, oder Irrlehre gemäß den Sunniten, wurden diese schiitischen Gruppen als „Übertreiber“ (arab. ghulat) oder „extreme Schia“ bezeichnet und als Häretiker abgestempelt. Die Alawiten gehören dieser Strömung an und bilden die einzige Gruppe, die all die Verfolgungen durch die Sunniten überlebt haben. Sie waren zunächst als „Nusairier/Nusairis“ bekannt. Diese Bezeichnung geht auf einen gewissen Muhammad ibn Nusair zurück, einem Gefährten des elften Imam Hasan al-Askari, einem Nachfahren Alis. Ibn Nusair wird nachgesagt, dass er dem Imam Göttlichkeit zugesprochen hätte, von ihm als Prophet erkoren wurde und auch sein „Tor“ (arab. bab) sei: die Gläubigen würden nur durch ihn zum Imam gelangen. Nach Ibn Nusair haben einige Männer die Glaubensinhalte erweitert und somit eine Theologie erschaffen, in deren Zentrum die Göttlichkeit Alis steht. Sie sind die eigentlichen Gründer des Nusairi-Glaubens und haben ihre Sekte später in Syrien durch aktive Missionierung verbreitet. Später, als sie durch sunnitische Dynastien verfolgt wurden, zogen sich die Nusairier in die Berge im Westen Syriens hinter Latakia zurück. Die Berge sind als „Nusairier-Berge“ oder „Alawiten-Berge“ bekannt. Bis heute ist diese Region das Kernland der Alawiten. Es gibt auch Alawiten in der Südtürkei in der Provinz Hatay (Antakya) und westlich davon in Adana und Mersin.
Das Alawitentum ist eine gnostische Sekte des Islam und besitzt ein Geheimwissen. Neulinge aus der Gemeinschaft durchgehen eine Initiation: nur männliche Alawiten werden in die Geheimlehren eingeführt, die mit der gängigen islamischen Lehre nichts zu tun haben. Frauen sind ausgeschlossen; bestenfalls, weil sie als unfähig angesehen werden, Geheimnisse zu bewahren. Schlimmstenfalls weil sie keine Seelen haben. Dies ist zumindest in der Theorie so. Allerdings spielt die Initiation und die untergeordnete Status der Frauen immer weniger eine Rolle, weil sich junge Alawiten immer weniger für ihren Glauben interessieren und sich an die moderne säkulare Gesellschaft anpassen.
Wie Sie schon sagten, waren die Alawiten vorher als „Nusairier“ bekannt. Bis heute sind sich Historiker einig, dass die Bezeichnung „Alawi“ nicht bis zum 1. Weltkrieg benutzt wurde und ab 1920 von den Franzosen geprägt wurde, die ja bis 1946 das Mandat über das heutige Syrien und Libanon hatten. Ohne Zweifel haben die Franzosen „Alawi“ benutzt um diese Gemeinschaft für ihre separatistische Politik gegen einen arabischen Nationalismus zu bevorzugen und eine Vorherrschaft der Sunniten zu unterbinden. Schließlich gründete Frankreich auch den „Staat der Alawiten“ der bis 1936 existierte, später aber in die „Syrische Föderation“ eingegliedert wurde. Allerdings gibt es Belege, dass „Alawi“ viel früher, schon im 11. Jahrhundert, als Selbstbezeichnung verwendet wurde. In osmanischen Dokumenten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts tauchen einige Male die Bezeichnungen „arabische alawitische Gemeinschaft“ oder „die Nusairi Alawi Gemeinschaft“ auf, und zwar in Briefen von Führern dieser Gemeinschaft an die Zentralverwaltung in Istanbul. Dies zeigt uns, dass „Alawi“ erheblich länger, als bisher bekannt von ihnen selbst verwendet wurde, um sich als ein Teil der muslimischen Gemeinschaft zu präsentieren.
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Ich bin selber alawit und kann nur mit dem Kopf schütteln. Dieses Interview sollte gelöscht werden um weniger Hass zu verbreiten.
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anbei möchte ich anmerken, dass sie einige richtige Informationen in diesem Beitrag befinden, jedoch auch SEHR VIEL falsches über die Alawiten. Eine Frau zu sein ist weder eine Bestrafung noch schlecht und Frauen sind den Männern mindestens gleichgestellt. (Man sagt auch: „Unter den Füßen der Mutter (ist eine Frau, das versteht sich doch von selbst) liegt das Paradies.“
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ich würde ihnen folgenden Artikel von Frank Nordhausen nahe legen -->> https://www.berliner-zeitung.de/kultur/syrien-konflikt--unser-gott-heisst-baschar--6035636
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Deutschland knüpft mit der Unterstützung dieser Demagogen an die Tradition des Herrn Max von Oppenheim (El Dschihad), der Reichswehr in Zossen/Wühnsdorf und der 5. Moschee in München (Johnson) an. Es wäre doch mal schön, wenn sich die Gerda Henkel Stiftung mit dieser Historie und der Rolle des Auswärtigen Amtes mit ihrer neuen Kulturbringerin Michelle Müntefering beschäftigt. Auch in Europa wurden der Balkan und die Ukraine von Ustasha, UCK und OUN "befreit" (mit dem Beiwerk der tanzenden Studenten).
Der Marshallplan MIT Afrika wartet schon, das Kapital frisst sich durch.
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Selda
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Jahr einige Wochen in Tarsus/Türkei. Sie respektieren meine Religion. Nur die alawitsche Beerdigung hat mir - als Frau - nicht gefallen. Da gibt es noch viel zu "reformieren".
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sehr erhellender Beitrag. Weiter so und alles Gute.
Wilfried und Silke