Katen liess mir Nachts sagen, acht russische Armeecorps seien im Anmarsch; wir würden hier stehen bleiben und bis zum Äussersten aushalten. – Nachmittags nach Czenstochau; Kiepert getroffen, der mit dem AOK der Neunten Armee (Mackensen) heute Abend um 8 fortfährt, nach Norden: nach Thorn wie er sagt. Im AOK sei man des Erfolges der neuen Operation sicher. Nachher im Obercommando (Woyrsch) gegessen bei Stolberg u Zedlitz. Stolberg sagt, unser Auftrag sei, hier bis zum 9ten Mittags auszuhalten, wenn wir das könnten, sei die Sache gemacht. Unsere Linie hier sei aber sehr dünn, und wenn die Russen ihre ganze Kraft an einer Stelle ansetzten, könnten sie vielleicht durchbrechen. Heute früh hat man hier einen russischen Funkspruch aufgefangen, der für die russische Armee heute einen Ruhetag anordnete. Offenbar kommen sie schwer vorwärts. Man erwartet den Anfang des Gefechts deshalb morgen. Stolberg sprach die Hoffnung aus, dass dies das letzte Mal sei, dass das Landwehrcorps einen solchen Auftrag erhalte, mit ganz dünnen Linien einen Widerstand vorzutäuschen und dann aus dem siegreichen Gefecht zurückzugehen. Das wirke auf die Dauer demoralisierend; sie hätten seit Anfang des Feldzuges nur solche Aufträge gehabt. Bei Tisch kam ein Telegramm, das Woyrsch vorlas und in dem ein siegreiches Seegefecht an der chilenischen Küste gemeldet wurde. Unser Kreuzergeschwader hat einen englischen Kreuzer, den „Monmouth“, in den Grund gebohrt und zwei: „Glasgow“ und „Good Hope“, ausser Gefecht gesetzt. Dies hob die Stimmung fühlbar. Löschebrand vom Generalstab, Bethusy, Zedlitz, ich und Andre unterhielten uns bis spät über den Fortgang des Feldzuges. Alle waren der Ansicht, dass wir nach London müssten; geteilt waren die Meinungen darüber, ob die Einnahme von Paris nötig sei. Löschebrand meinte, sie sei des Eindruckes wegen nötig, und hierin stimme ich ihm bei; aber weiter wie bis an die Loire könnten wir unter keinen Umständen: unsere Etappenstrassen würden sonst zu lang, wir hätten nicht genug Menschen, um sie zu besetzen und würden dann vorne zu schwach. Die Expedition nach England ist aber die Hauptsache; daher das Ringen um die Küste, das uns die Basis dafür liefern soll, so wichtig. – Bethusy schimpfte sehr auf Lichnowsky. Persönlich möge er ihn gern, aber sein Verhalten als Botschafter in London sei würdelos gewesen; deshalb werde er auch nie die Lächerlichkeit überwinden, die ihm infolge des Scheiterns seiner Mission doch anhafte. Ich finde das Alles sehr übertrieben. Das unruhig Flackernde seines Wesens und seine etwas süffisante Eitelkeit waren keine guten Eigenschaften für einen Botschafter, aber er hätte, wenn die Katastrophe nicht so schnell hereingebrochen wäre, doch Manches durch sein gesellschaftliches Geschick gutgemacht. Er liess sich leider durch Leute wie Grey oder die Lady Ormond zu sehr imponieren, war hierin doch Provinziale.
6. Nov 1914. Freitag. Gnászyn (bei Czenstochau)
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
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