Below, bei dem ich jetzt als Ordonnanzoffizier kommandiert bin, beauftragte mich, dem Prinzen Friedrich Leopold die Forts der Südfront vor Namur zu zeigen. Ich erwartete den Prinzen im Fort Maizeret (dessen Beschiessung durch Krupp ich neulich beigewohnt habe). Maizeret ist stark zusammengeschossen, namentlich die Kehle. Hier lagen auch Haufen von belgischen Uniformen, da die Besatzung, ehe sie floh, sich Zivilkleider angezogen hat. Drei belgische Gefangene (Chasseurs) die von den Wäldern eingekommen und sich ergeben haben, wurden dem Prinzen vorgeführt. Sie zitterten so, dass sie kaum stehen konnten. Fort d’Andoy und Fort St Héribert liessen wir auf Wunsch des Prinzen aus. Fort de Dave und Fort Malonne, die wir besuchten, sind kaum beschädigt. Malonne ganz intakt. Die Besatzung ist in Zivilkleidern geflohen (einige Haufen fortgeworfener Uniformen lagen in der Kehle); der Kommandant, ein Priester und ein Feldwebel waren allein zurückgeblieben und haben sich ergeben. Rings um Malonne Drahthindernisse von fast grotesker Ausdehnung und Menge. Der belgische Soldat schlägt sich nicht gern; um so mehr die Zivilisten, die auch tapfer in den Tod gehen, wenn man sie erschiessen lässt. Dem Prinzen auch das Lazarett in Namur gezeigt, wo er die gefangenen Turcos und Senegalesen zu sehen wünschte. Sie sind in der Schlacht an der Sambre gefangen. Sie sagen, sie hättten den Auftrag gehabt, offensiv über die Sambre vorzugehen und den deutschen Vormarsch aufzuhalten. Sie seien zwei Corps gewesen. Durch ein Versehen sei aber ein Teil der Regimenter zu spät gekommen, so dass die die ich sprach, die Sambre garnicht erreichten. Zwei Neger waren dabei, von denen einer vollkommen gut französisch sprach, auch ein Coiffeur aus der Avenue Wagram. Die Leute machten einen ganz vergnügten Eindruck. Sie waren angenehm überrascht durch die Behandlung, die wir ihnen zuteil werden lassen. Sie sagen, man habe ihnen vorgemacht, die Deutschen marterten die Verwundeten und Gefangenen, einzelne hätten deshalb solche Angst vor der Gefangennahme gehabt, dass sie sich das Leben genommen hätten. Der Prinz richtete selbst keine Fragen an die Gefangenen, sondern liess sie durch seinen Generalstäbler und mich anfragen; er ist offenbar sehr verlegen, war aber liebenswürdiger als ich ihn sonst gekannt habe, dankte mir beim Abschied „tausend, tausend Mal“, liess Below Grüsse bestellen etc. - Nachmittags erhielt ich mit Lancken und Zobeltitz zusammen den Auftrag, mit den Namurer Notabeln über die Kriegskontributionen zu verhandeln, die Gallwitz auf 50 Millionen Mark festgesetzt hat. Da Namur nur 32 000 Einwohner hat, war es klar, dass es nie diese Summe bezahlen konnte. Ich einigte mich mit Lancken und Zobeltitz deshalb darauf, dass wir ihnen 50 Mill. francs auferlegen sollten, aber bei guten Zahlungsbedingungen die Summe noch weiter ermässigen wollten, so dass etwa 1000 francs auf den Kopf der Bevölkerung käme. In diesem Sinne führten wir die Verhandlungen zu einem günstigen Ergebnis, indem wir eine Million in bar bis morgen Mittag, vier weitere Millionen in drei Monaten und den Rest sechs Monate nach Friedensschluss mit den Westmächten erreichten. Die Leute, meistens Bankiers und Advokaten, waren äusserlich sehr entgegenkommend, obwohl einige die Tränen in den Augen standen. Die Stadt Namur ist auf unabsehbare Zeit durch diese Kontribution ruinirt. Wenn man die hübschen Gärten, alle Zeichen der bisherigen Wohlhabenheit sieht, so kann man das Gefühl des Mitleids nicht unterdrücken.
27. August 1914 Namur. Donnerstag
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
Public Domain marked, Bibliothèque nationale de France, département Estampes et photographie, EST EI-13 (385) (Europeana 1914-1918)