Waldersee gibt mir den Auftrag, festzustellen, ob die von besoldeten Spionen überbrachte Nachricht, dass 150 000 Engländer und Franzosen unter Verletzung der holländischen Neutralität durch Nord Belgien auf die Rheinprovinz zumarschierten, richtig sei. Ich solle über Tongeren die Strasse auf Maastricht und die holländische Grenze bis Maeseyck per Auto abpatrouillieren, dann nördlich bis Bree langfahren und von Bree über Opglabeck und Tongeren zurückkehren. Die Strecke von Tongeren bis vor Maastricht und dann bis Maeseyck war landschaftlich reizvoll, immer durch schnurgerade prachtvolle Alleen, aber von irgendeinem Feinde war Nichts zu sehen. Dagegen bekamen wir auf dem Rückwege südlich von Bree die Feuertaufe. Eine Patrouille belgischer Radler, etwa acht bis zehn Mann stark, mit Carabinern, kam uns von Süden auf der Chaussee entgegen. Ich liess entsichern und mit voller Fahrt auf sie zufahren. Statt uns die Räder vors Auto zu werfen, um es zum Stehen zu bringen, sprangen sie rechts und links in den Chausseegraben und gaben, offenbar ohne zu Zielen, Feuer. Wir feuerten im Herankommen unsere Brownings und Carabiner auf sie ab, je drei bis vier Schuss, worauf sie panikartig die Flucht ergriffen und rechts und links in den Wald fortliefen. Fromberg, der das Auto führte, bewährte sich ausgezeichnet. Die Infanterie Abteilung, die ich hinter dieser Spähe vermutete, blieb aus, so dass wir keine weiteren Abenteuer zu bestehen hatten, sondern unbehelligt nach Lüttich gelangten. Um 11 waren wir abgefahren, um 2 35 waren wir zurück. Wir waren etwa 160 km gefahren. Die Aufregung auf dem Generalkommando wegen der Vorgänge von gestern wächst. Man scheint für heute Abend noch Schlimmeres zu befürchten. Collewe hat alle Häuser um den Platz vor dem Gouvernement räumen lassen. Niemand darf den Riesenplatz ohne besondere Erlaubnis betreten; er liegt jetzt ganz zwei Wörter Lücke auf dem Balkon des Palais aufgestellten Maschienengewehren - Nachmittags erhielt ich den Auftrag, einen gefangenen französischen Offizier, einen Oberleutnant von den 32ten Dragonern, und eine französischen „Adjutanten“ auf das Fort Chartreuse zu bringen. Der Oberleutnant, ein Typus der mich an Gérard’s Reiterbildnisse erinnerte, dunkel, gross, wild aussehend, war auf der Fahrt durch die Stadt sehr verlegen, nahm seinen Helm ab und versteckte sich so gut es gieng im Auto. Oben im Fort war er wieder sehr depagiert, bat um eine Zigarre und schien sein Schicksal, selbst das Anglotzen durch die rasch zusammenströmenden deutschen Soldaten, mit Gleichmut zu ertragen. - Als ich ins Palais zurückkehrte, sagte mir Schillings, ein belgischer Verwundeter wolle einem französisch sprechenden deutschen Offiziere Angaben über die Befestigungen von Namur machen; der Mann schien vertrauenswürdig: Ich meldete dies Waldersee, der mich sofort ins Spital schickte. Der Mann machte mir hauptsächlich Angaben über die Minen in den Festungen, aus Unmut wie er sagte, und Ekel über die Art, wie belgische Offiziere und speziell die seiner Kompagnie die Mannschaften im Gefecht im Stich gelassen hätten; sein Hauptmann und sein Leutnant seien einfach davongelaufen, während er und seine Kameraden kämpften. Die Angaben, die ich Collewe überbrachte, schien ihm wichtig genug, um mir eine Nachtfahrt zu Gallwitz nach Namur aufzutragen. Waldersee, bei dem ich mich vorher melden sollte, verschob die Abfahrt, zum Teil der Banden wegen, auf morgen früh acht Uhr. Abends mit Reuss u. Pückler (vom Roten Kreuz) gesessen. Mit Reuss zum Bahnhof einen Verwundeten Transport empfangen. Sie kamen von Namur und erzählten, dass das Gefecht gut gehe; wir hätten belgische versetzte Stellungen genommen. Die belgischen Verwundeten hätten sie umbringen müssen, weil sie von hinten auf die haltende Truppe geschossen hätten.
21. VIII 1914 Freitag. Lüttich
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
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