Früh nach Labiau. Unterwegs an der Chaussee zuerst die russischen Schützengräben und Drahthindernisse, mächtige Erdbauten und Verschanzungen, an denen sie Wochen gearbeitet haben müssen, dann bei Labiau an der Deime die deutschen, ebenfalls stark und ausgedehnt, hauptsächlich Draht. Die deutschen Granattrichter liegen meistens vor den russ. Schützengräben; es ist also zu kurz geschossen worden. In Labiau Gelegenheit gefunden im Auto nach Königsberg zu fahren. Auch vor Königsberg mächtige Drahthindernisse, zahlreiche hölzerne Beobachtungstürme. Man sagt hier, die Russen hätten Königsberg leicht nehmen können, wenn sie nicht so untätig gewesen wären und sich nicht vor dem Deimeübergang gefürchtet hätten. In Königsberg im Hotel Berliner Hof und auf den Strassen das übliche Lagerleben einer grossen Stadt dicht am Feinde, wie in Lüttich und Namur. Der Esssaal des Berliner Hofs voll von höheren Stäben, Stabsärzten, Lazarettleuten, und überall war die Rede von Krieg und Kriegserlebnissen. Die Stadt ist hübsch, namentlich der Teil um den Schlossteich mit schönen Bäumen, Promenadenwegen, Blumenbeeten, Gondeln. In der Stadthalle und dem Theater sind Lazarette, die Kranken und Verwundeten sitzen und stehen in ihren blaugestreiften hellen, propren Kitteln im Garten und reden mit dem Publikum auf dem Promenadenweg über den Zaun weg. Das Schloss ist niedrig, aber breit und würdig und muss im 16ten Jahrhundert, als es gebaut wurde, imponiert haben. Mit Dohna-Malmitz im Central Hotel gegessen. Er erzählt, wie ihm zwei seiner Leute in Belgien von einer Lazarettkolonne, die im Dunklen Kühe für eine feindliche Patrouille gehalten hatten, totgeschossen worden sind. Spät über Labiau nach Adl Paddeim zurück.
18 September 1914 Freitag. Adl. Paddeim u Königsberg
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
Meyers Reisebücher, "Ostseebäder", Bibliographisches Institut, Leipzig 1910, gemeinfrei (100 Jahre / Wikipedia)