Fauler Friede. Nachmittags in Czenstochau; wir sind dort mitten in der Räumung stehengeblieben: Strassen und Bahnhof sind halb verödet, die Hotels halb leer, es giebt keine Feldpost mehr, Hafer, Benzin, Petroleum sind aus den Magazinen „um zu räumen“ verbracht worden. Ich habe für meinen Teil 125 Centner Hafer bekommen. Alles ist zur Sprengung vorbereitet. Aber die Russen greifen nicht an, unsere Stellungen sind stark, so bleiben wir „auf 24stündige Kündigung“ auf diesem Pulverfass stehen. Wie lange dieser Zustand dauern wird, ist nicht abzusehen. – Einige nachträgliche Bemerkungen: Das Landwehr Corps hat durch die vielen Rückzüge ziemlich stark moralisch gelitten. Schon vor Nowo Aleksandria sagte mir Grumbkows Adjutant, der alte Herr sei eigentlich nur deshalb eine ganze Nacht im Schützengraben geblieben, um den Leuten das Gefühl der Sicherheit zu geben; sie wären sonst vielleicht fortgelaufen. Gestern in Olsztyn sagte mir ein Hauptmann von den 51ern, ein Graf Carmer, dass er seine Leute beim Angriff nicht mehr vorwärtsbekomme; fünf oder sechs giengen mit, die andren verkrümelten sich. Er hätte schon mit Niederschiessen drohen müssen. Er wollte deshalb zu einem andren Corps. Bernhard Stolberg erzählte mir, bei seinem Angriff auf den russischen Schützengraben bei Tarnawka sei er schliesslich mit einem Leutnant allein geblieben. Die Leute hätten sich allmählich alle in die Nacht verloren. Nur deshalb habe er den Schützengraben, in den er mit dem Leutnant eingedrungen war, nicht halten können, sonst wäre die Schlachtfront wiederhergestellt gewesen. Die alten Leute taugen dazu doch bedeutend weniger als die Jungen, ihre Nerven sind verbraucht. – Nach Bethusys Erzählungen gewinnt man den Eindruck, dass die österreichische Armee an einer Komplikation von Kinderkrankheiten mit Altersschwäche leidet, die manchmal groteske Erscheinungen zeitigt (Skizzierzeichnen nach längst erledigten Gefechtsmomenten, Stilisierung von Meldungen, Nichtmelden wichtiger Beobachtungen, weil nicht dazu aufgefordert, Gigerlhafte Todesverachtung junger Leutnants). Die Österreicher sind bei der jetzigen Aktion ganz im Hintertreffen bei Bendzin, noch hinter dem Landwehrcorps. – Der Typus des Generalstäblers (Ludendorf, Kundt, Heie, Bennecke) eine Art von Priesterschaft, Delegierte eines heimlichen Ordens, der dem Kriegsgotte dient, als solche erhaben über Frontoffiziere, die das Allerheiligste nicht schauen dürfen: verschlossen, kühl, klar, hart, höflich; alle wie nach einem Muster fabriziert, ganz unsentimental die Dinge nur nach dem geschäftlichen Vorteil beurteilend (das überträgt sich dann auch auf das Privatfortkommen), Verstandesmenschen, aber mit Phantasie, die bei Einigen eine Brücke zur Kunst im Wort und sonst bildet, bei Andren (z B. Heie) eine hochgradige Nervosität, ein cholerisches, schwer zu ertragendes Temperament zur Folge hat; was gesteigert wird durch die Raschheit, mit der Entschlüsse zu fassen sind, durch die ungeheure Verantwortung und durch die Unsicherheit der Voraussetzungen, auf die hin sie gefasst werden müssen. Alles in Allem ein Typus, und ein klarer, imponierender, der nur in der römischen hohen Geistlichkeit sein Gegenstück hat; Friedrich der Gr., Gneisenau, Scharnhorst, Moltke, Schlieffen haben die Schablone dazu allmählich ausgestanzt, und von ihnen allen ist in den meisten Generalstäblern Etwas lebendig. Sie haben aus dem Krieg ein grosses Geschäftsunternehmen gemacht, das von Bureaus aus geleitet wird. Äusserlich sind sie weniger poetisch als die auf Araberpferden einhersprengenden Feldherren früherer Zeiten. Ihre Willenskraft, ihre Phantasie, ihr Organisationstalent, ja vielfach ihre Kühnheit (z B. bei Hindenburg, bei Ludendorf) sind vielleicht noch höher. Es hat sich hier ein neuer Typus, eine neue Spielart des Deutschen gebildet, über die der Weg vielleicht weiterführt, der aber auch schon einen verwandten Typus in unseren grossen Musikdirigenten (Bülow, Strauss) u Regisseuren (Reinhardt) hat, den Typus des deutschen Organisators (ganz anders als der englische oder amerikanische).
11 Nov 1914. Mittwoch. Gnászyn
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
CC-PD-Mark (WikimediaCommons)