Früh um 8 versammelt sich Alles beim Kaffee im Generalkommando: der General, Mutius, die Generalstäbler u Ordonnanzoffiziere; die Aufträge werden verteilt. Ich begleitete den General heute aufs Gefechtsfeld. Wir fuhren in zwei Autos, der General mit dem Ia Thomson, ich mit dem Adjutanten dem Major Krause. Zuerst nach dem Gefechtsstand des Corps, der 20 Kilometer von hier auf dem Gut in Kruszów ist; dort stiegen wir zu Pferde u ritten hinaus. Der General besichtigte einige Schützengräben, die im Bau sind. Die Compagnieen waren sehr zusammengeschmolzen; 120, 130 Mann Gefechtsstärke, die zahlreichste 162. Eine wurde von einem Offiziersdienstthuer geführt, keine hatte mehr als einen Offizier. Der Gesundheitsstand ist gut, das Wetter auch heute wieder herrlich. Der Major Krause ist derselben Ansicht wie Mutius, dass in Frankreich nicht mehr viel zu machen ist. Hauptgründe: geringerer Gefechtswert unserer Truppen, viel zu viele von den besten Mannschaften u Offizieren gefallen, dass die Offiziere zum grossen Teil heute Reserve u Landwehr Offiziere sind, die die Truppen im Gefecht ungeschickt führen. Ferner: jeder Sturm kostet ungeheure Opfer; und wenn man einen Schützengraben nimmt, ist 100 Meter dahinter schon wieder ein andrer. Die Artillerie kann wenig machen, weil ein Schützengraben zu klein als Ziel ist; Feldstellungen sind daher tatsächlich schwerer zu erobern als Festungen (siehe Antwerpen und im Gegensatz dazu das blos durch Feldstellungen befestigte Dorf Langemark; jenes habe Beseler in 11 Tagen genommen, gegen dieses nach 14 Tagen so gut wie Nichts ausgerichtet). Auch von Verdun aus sei nicht viel zu machen. Hinter der Maass sei das Lager von Chalons, das ungeheuer stark befestigt sein solle. Eine Landung in England hält K., der Pionier ist, für unausführbar, oder wenigstens für ein zu riskiertes Abenteuer. Wir hätten auch zu wenig Erfahrungen über Landungsoperationen. Man habe einige Versuche in den letzten Jahren gemacht und bilde zwei Kompagnieen Pioniere in Sonderburg jetzt dafür aus; aber das sei Alles viel zu wenig, um eine so kolossale Operation zu riskieren. Man könne nur hoffen, dass die Franzosen mürbe würden und sich vielleicht gezwungen sähen, auf Paris zurückzugehen. Immerhin sei die Lage der Verbündeten noch schlechter als die unsrige, da wir ja Belgien und Nordfrankreich besetzt hielten.
10 Dez. 1914 Donnerstag. Pabianice.
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
Veröffentlicht in: "Die Große Zeit. Illustrierte Kriegsgeschichte". Zweiter Band. Berlin 1920. S. 149. Dortige Quellenangabe: "Aus einer englischen Zeitschrift", CC-PD-Mark (WikimediaCommons)