"Früh noch keine Antwort Russlands auf das gestrige Ultimatum. Schwer und schwül drückt die Unsicherheit auf die Stimmung. Musch Richter kam zu mir, wir frühstückten zusammen. Er schreibt an Falkenhayn wegen einer Verwendung für mich bei einem Stabe. U d L. Friedländer Fuld getroffen, der aus einer Sitzung der Reichsbank kam. Er erzählte von wilden Gerüchten die bei dieser Sitzung geschwirrt hätten: in Frankreich sei eine Revolution ausgebrochen (offenbar durch die Ermordung von Jaurès veranlasst), Russland oder Frankreich hätten um eine weitere sechsstündige Bedenkfrist gebeten. Er war aber sehr zuversichtlich; bei uns sei die Lage wirtschaftlich weit besser als in Frankreich oder England, wo Alles drunter und drüber ginge. Er führte zur Begründung die bisher geheim gehaltene Einrichtung der Reichsbank zur Lombardierung der Wertpapiere an Waaren an. Während wir sprachen kam die Wache vorbei, von einer grossen Menge begleitet, die die Wacht a R. sang. Nachmittags gegen sechs wurde die Mobilmachung bekannt. Man atmete auf, Druck und Schwüle wichen, eine kühle Entschlossenheit trat an ihre Stelle. Nachts waren Friedrichstrasse, Linden, der Platz vor dem Schlosse von einer gewaltigen Menschenmenge angefüllt, die bis auf die Bäume, auf die Laternenpfähle die leeren Sockel der Feldherrenstandbilder hinaufwogte. Von Zeit zu Zeit zieht eine xxxxx durch, die Deutschland Deutschland über Alles oder die Wacht am Rhein singt und die Hüte schwenkt. Die Menge macht einen weit sichereren, weniger berauschten Eindruck als gestern. Die Sicherheit, dass es in den Krieg geht, hat Alle gefestigt."
1. August. 1914. Sonnabend.
Tagebucheintrag von Harry Graf Kessler
Foto: DLA
Interview mit Dr. Roland S. Kamzelak über das Editionsprojekt "Tagebücher Harry Graf Kessler"
L.I.S.A.: Herr Dr. Kamzelak, Sie haben in einem Projekt die Tagebucheinträge von Harry Graf Kessler digital aufbereitet. Worum ging es in dem Projekt genau?
Dr. Kamzelak: 1961 erschienen die ersten Tagebucheinträge Kesslers in einer Auswahlausgabe bei Fischer mit Texten von 1918-1937. Nachdem das Deutsche Literaturarchiv Marbach den Nachlass Kesslers erworben hatte, das war ab 1987, konnte der erste Teil, also 1880-1918, erstmals ediert, aber auch der zweite Teil musste ergänzt werden. Mit der neuen Edition liegt der Text von Harry Graf Kessler nun erstmals vollständig und in wissenschaftlich fundierter Aufbereitung vor.
L.I.S.A.: Was versprechen Sie sich von einem solchen digitalen Editionsprojekt? Was ist der Mehrwert?
Dr. Kamzelak: Die Tagebücher sind in verschiedenen Disziplinen nachgefragt: Zuerst in der Kunstgeschichte, dann aber rasch in der Literatur- und nun verstärkt auch in der Geschichtswissenschaft. Die gedruckten Bände verkaufen sich in hohen Auflagen und werden interdisziplinär benutzt. Nun folgt die elektronische Ausgabe, die moderne Analysemethoden - in den sogenannten Digital Humanities - ermöglichen wird. Die reich hinzugefügten Metadaten in XML/TEI lassen sich wunderbar auswerten und mit anderen Projekten verknüpfen. Und über eine digitale Ausgabe findet der Text vielleicht auch verstärkt ein jüngeres Publikum.
L.I.S.A.: Wieso haben Sie sich die Tagebücher von Harry Graf Kessler vorgenommen? Was hat Sie an der Person bzw. an den Tagebüchern gereizt?
Dr. Kamzelak: Harry Graf Kessler ist eine schillernde Figur, der vor allem in Deutschland, Frankreich und England zu Hause war. Er hatte Zugang zu allen wichtigen Zirkeln in Kunst, Politik und Gesellschaft. Namen zu nennen, würde ein Liste von mehr als zehntausend Einträgen bedeuten. Nur andeutungsweise: Maillol, Rodin, van de Velde, Munch, Denis, Rathenau, Stresemann, Pilsudski, Hauptmann, Becher, Hofmannsthal, Dehmel, Strauss.
Er war nicht nur gebildet, sondern vielseitig interessiert an Kunst, Literatur, Politik und vor allem an Menschen und ganzen Völkern. Seine ausgiebige Reisetätigkeit bot ihm immer wieder Nahrung für Überlegungen und Projekte, die er mit seinem Vermögen auch meist umsetzen konnte. Seine Art, Tagebuch zu führen, also fast täglich und im Stil ausgereift mit vielen fast wörtlichen Gesprächswiedergaben, ist einzigartig.
Einzigartig im Stil, aber auch in der Fülle der Informationen und Eindrücke, die ein unmittelbares Panoptikum der Zeit von 1880 bis 1937 bieten. Das Tagebuch bietet alles von heiteren, vergnüglichen Passagen (z. B. der Besuch bei Verlaine) bis hin zu depressionsartigen Schilderungen, etwa zum Schluss des Ersten Weltkrieges oder aus dem Exil.
Dr. Roland S. Kamzelak hat die Fragen der L.I.S.A.Redaktion schriftlich beantwortet.