Die Geschichte der Menschenrechte ist eng verbunden mit der fortschreitenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Das zentrale Problem dabei: Wie sind im internationalen System individuelle Rechte gegen Staaten, also die alleinig anerkannten Völkerrechtssubjekte, geltend zu machen? Die Historikerin PD Dr. Annette Weinke von der Universität Jena geht in ihrem aktuellen Buch dieser Frage nach und erweitert sie um die Bedeutung von Geschichtsbildern auf das Völkerrecht sowie das Völkerstrafrecht. Hierbei nimmt sie insbesondere transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert in den Blick, so unter anderem die Aushandlung des Versailler Vertrags sowie die Nürnberger Prozesse. Wir haben ihr dazu unsere Fragen gestellt.
"Das Individuum als völkerrechtliches Subjekt begreifen"
L.I.S.A.: Frau Dr. Weinke, Sie haben eine historische Studie zu transnationalen Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert vorgelegt. Das Buch mit dem Titel „Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit“ ist mit der Übersetzungsförderung durch das Programm "Geisteswissenschaften International" ausgezeichnet. Bevor wir auf das Buch genauer eingehen, was hat Sie zu Ihrem Thema geführt? Welche Ausgangsüberlegung lag Ihrer Arbeit zugrunde?
Dr. Weinke: Es ist erst wenige Jahre her, seit die Geschichts- und Kulturwissenschaften damit begonnen haben, sich stärker für rechtsgeschichtliche Fragestellungen zu interessieren. Mit dem global turn wuchs beispielsweise das Bewusstsein dafür, dass sich Globalisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert oftmals über das Medium des Rechts vollzogen haben.
Eines der aktuell wichtigsten Forschungsfelder, auf denen sich die weltweite Verbreitung bestimmter Rechtsauffassungen und Rechtsbegriffe sehr gut verdeutlichen lässt, ist die Geschichte der Menschenrechte. Obwohl es gute Gründe dafür gibt, den Aufstieg der Menschenrechte, des humanitären Völkerrechts und des Völkerstrafrechts zusammenzudenken, weil alle drei tendenziell darauf ausgerichtet sind, das Prinzip der Staatensouveränität zu schwächen und das Individuum als völkerrechtliches Subjekt zu begreifen, hat sich die „neue“ Menschenrechts-Historiographie mit den beiden letztgenannten Gebieten noch kaum befasst. Auf diese Lücke wollte ich mit meiner Untersuchung aufmerksam machen.
Eine andere Überlegung war, die Modedisziplin Transitional Justice als ein heuristisches Instrument einzusetzen, um das sich wandelnde Verhältnis von Recht, Moralpolitik, Geschichte und Erinnerung am Beispiel des Umgangs mit staatlicher Kriminalität auszuloten. Ausgangspunkt war dabei die These, dass die zunehmenden Konvergenzen und Verflechtungen zwischen Internationalem Strafrecht, Geschichte und Erinnerung als ein Basisprozess des 20. Jahrhunderts verstanden werden kann, der sich vor allem über die internationalen und transnationalen Auseinandersetzungen mit deutschen Staatsverbrechen konstituiert hat.