Bald hundert Jahre wird eine Epoche alt, die in den deutschen Schulen und Hochschulen ebenso wie in der politischen Debatte einen fragwürdigen Sonderstatus genießt. Kaum eine andere Epoche ist so gut erforscht wie die Weimarer Republik, mit Ausnahme der Hitler-Diktatur. Unweigerlich gilt die Republik als Vorgeschichte des Nationalsozialismus, als Mahnmal und Lehrstück. Was aber soll man von einer Epoche lernen, die niemand abschließend verstanden hat?
Warum soll es keine Volksabstimmungen auf Bundesebene geben? Warum wird der Bundespräsident nicht direkt gewählt? Warum muss es eine Fünf-Prozent-Hürde für Bundestagswahlen geben? Wer über diese Fragen reden will, wird meistens mit dem Argument abgespeist, das müsse so sein „wegen Weimar“. Entsprechend wird auch die Nachrichtenlage interpretiert: Immer wieder scheint es treffende Beispiele dafür zu geben, wie gut die Deutschen aus der Geschichte gelernt haben, siehe Brexit, siehe Trump, siehe die langen Regierungsbildungen in Belgien und den Niederlanden.
Wodurch aber kam die Republik angeblich zwingend zu ihrem grausamen Ende, und was kann man folglich daraus lernen? Offenkundig lernen die Menschen vor allem das, was sie lernen wollen, was in ihr Weltbild passt. Ein klassischer Linker erklärt sich den Untergang der Republik durch Machenschaften des Großkapitals, eine Konservative durch den Nihilismus, also die Wurzel-, Orientierungs- und Seelenlosigkeit in der modernen Massengesellschaft, und die Neue Linke durch den Nationalismus der Mehrheitsgesellschaft. Eine hundert Jahre alte Epoche kann generationsmäßig keine Zeitgeschichte mehr sein, politisch bleibt die Weimarer Republik jedoch eine vergangene Gegenwart, die sich der vollständigen Historisierung widersetzt. Als bloßes Instrument der je eigenen Gesellschaftskritik werden die Interpretationen allerdings vorhersehbar, langweilig und fruchtlos für das Lernen.
Dabei hat es nicht wenige Versuche in der Publizistik und Wissenschaft gegeben, die Krisen der Republik und damit die Anfälligkeit vieler Wähler für extreme Parteien zu erklären. Die Kenner der Epoche lehnen die Deutung vehement ab, der Untergang von „Weimar“ sei vorprogrammiert und zwangsläufig gewesen. Doch kommen sie ebenfalls nicht umhin, die Republik (auch) von ihrem Ende her zu denken, eben um gegen die Zwangsläufigkeit zu argumentieren und die vermeintlichen Lehren zu hinterfragen.
Die falsche Verfassung?
Kritik an der Weimarer Republik konzentriert sich oftmals auf die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Politisch unerfahrene Idealisten hätten die Weimarer Reichsverfassung erdacht, die sich dann in der Praxis nicht bewährt habe. Diese pauschale Kritik erinnert nicht von ungefähr an die Versuche von links außen und rechts außen, die Frankfurter Nationalversammlung und ihre Verfassung von 1849 zu diskreditieren. Dahinter steht eine Tendenz, Parlamente als „Schwatzbude“ zu verachten und stattdessen das Heil in der revolutionären Tat zu sehen.
Die Väter und Mütter der Reichsverfassung waren aber in der Regel nicht politisch unerfahren. Parlamente und ein reges politisches Leben hatte es bereits im 19. Jahrhundert gegeben. Die Verfassungseltern waren geprägt von ihren Erfahrungen und wollten zu Beginn der neuen Epoche Pflöcke einrammen. Zu den Erfahrungen gehörte der Preußische Verfassungskonflikt: Etwa 60 Jahre vor Weimar hatte der preußische König den Landtag mehrmals neu wählen lassen, um ein bestimmtes Gesetzesvorhaben zu realisieren. So erklärt sich die später kritisierte Vorschrift, dass der Reichspräsident den Reichstag nur einmal aus demselben Anlass auflösen darf. Diese Einschränkung mag in der Praxis keine Bedeutung gehabt haben, sie war aber an sich nicht unbedingt absurd.
Unbedacht habe die Reichsverfassung selbst der Parteienverdrossenheit Vorschub geleistet: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.“ Der Vorwurf, die Verfassung habe Parteien nur negativ erwähnt, geht aber ins Leere. Die meisten Zeitgenossen dürften durchaus verstanden haben, dass in diesem Satz keine politische Partei gemeint ist. Erst das Grundgesetz hat die politischen Parteien als Realität des staatlichen Lebens anerkannt. Auch in anderen Ländern kam es dazu, wenn überhaupt, erst nach 1945.
Wenn man eine Verfassung verstehen will, so reicht es nicht aus, sich den Verfassungstext vorzunehmen. Das gilt vor allem für die Weimarer Verfassung, die durch „verfassungsdurchbrechende“ Gesetze und überhaupt durch ihre flexible Handhabung früh ausgehöhlt wurde. Dies erschien den damaligen Politikern und Staatsrechtlern als notwendig und daher legitim. Bekannt sind von diesen Maßnahmen heute vor allem die Notverordnungen des Reichspräsidenten. So konnte ein Historiker behaupten, die Reichsverfassung habe „Ermächtigungsgesetze“ ermöglicht, auch wenn der Reichstag bis 1933 keinen Gebrauch davon gemacht habe.
Tatsächlich hat es in der Frühphase gleich mehrere Ermächtigungsgesetze gegeben, mit denen der Reichstag der Regierung erlaubte, Verordnungen mit Gesetzesrang zu erlassen. „Ermöglicht“ hatte dies die Verfassung höchstens dadurch, dass es nicht ausdrücklich verboten war. Als Hitler im März 1933 sein eigenes Ermächtigungsgesetz verlangte, läutete das Wort für die Zeitgenossen nicht dieselben Alarmglocken wie für uns heute – gerade weil es dafür zehn Jahre zuvor bereits Vorbilder gegeben hatte, wenngleich wesentlich gemäßigtere.
Das falsche Wahlsystem?
Fast jede Darstellung klagt darüber, dass das Weimarer Verhältniswahlsystem zu einer Zersplitterung der Parteienlandschaft geführt habe. Durch simples Zählen lässt sich jedoch feststellen: In den Weimarer Reichstagen waren etwa genauso viele Parteien vertreten wie im Kaiserreich (mit Ausnahme der Wahlen von 1928 und 1930). Die Fehleinschätzung rührt nicht nur von einer oberflächlichen Kenntnis der Kaiserzeit her: Man kann trefflich über die Vor- und Nachteile von unterschiedlichen Wahlsystemen streiten, um bestimmte funktionale Ziele von Wahlen zu erreichen, wie die Repräsentativität oder die Konzentrierung der politischen Kräfte. Allgemein aber wird doch überschätzt, wie gut sich Wahlergebnisse in der Demokratie durch das Wahlsystem „steuern“ lassen. Wie die Deutschen gewählt hätten, wenn man sie vor ein anderes Wahlsystem gestellt hätte, muss wie vieles Spekulation bleiben.
Der Republik zum Verhängnis wurde die Stärke der extremen Parteien, nicht die Vielfalt der Kleinparteien. Ein nachvollziehbares Argument hält dem entgegen: Wenn das Wahlsystem die Kleinparteien aus dem Parlament gehalten hätte, wäre es wohl einfacher gewesen, Mehrheiten für eine stabile Regierung zusammen zu bekommen. Je mehr Parteien man hingegen dafür braucht, desto wahrscheinlicher wird das vorzeitige Scheitern der Regierungskoalition.
Der internationale Vergleich zeigt jedoch, dass viele Länder mit häufigen Regierungswechseln und Neuwahlen ziemlich gut leben können. Es scheint sich um eine bestimmte Ausformung der parlamentarischen Demokratie zu handeln, die man etwa in Italien, Benelux und Skandinavien beobachten kann. In solchen Ländern fehlt es nicht an Kontinuität: Eine Partei verlässt die Regierung und eine neue tritt ein, aber viele Minister bleiben über Jahre im Kabinett, wenngleich auf unterschiedlichen Posten.
Das Gegenstück dazu kennt man aus Großbritannien und der Bundesrepublik, mit Regierungschefs, die sich auf nur eine oder zwei Parteien stützen müssen und viele Jahre im Amt bleiben. Man mag seine persönliche Vorliebe haben – es wäre aber zu einfach, die bundesrepublikanische Erfahrung zur universellen Messlatte zu erheben und für allein seligmachend zu erklären.
Die falschen Wähler? Die falschen Politiker?
Die Republik habe keine Republikaner, die Demokratie keine Demokraten gehabt. Die Deutschen hätten von der vermeintlich glanzvollen Monarchie geträumt. Mögen sie geträumt haben – in der Realität hat es keinen einzigen ernsthaften Versuch gegeben, einem Hohenzollern oder anderen Fürsten wieder auf einen Thron zu setzen. Daran hatten weder die rechtsliberale DVP und selbst nicht die rechtskonservative DNVP ein Interesse, ganz zu schweigen von den Nationalsozialisten.
Der Vertrag von Versailles sei eine schwere Bürde für das Ansehen des neuen Deutschlands gewesen. Dies sollte weder bagatellisiert noch aufgebauscht werden: Unzweifelhaft war „Versailles“ eine ernstzunehmende Altlast des Weltkrieges bzw. des vorherigen Regimes. Sie dient jedoch schlecht als Erklärung dafür, dass die Deutschen im Jahr 1930 rechtsradikaler gewählt haben als 1920, als der Schock über die Friedensbedingungen noch frisch war.
Und so sind noch viele weitere Gründe für das Scheitern der Republik besprochen worden: die Hyper-Inflation, die laut Forschung das Bürgertum jedoch nicht so flächendeckend getroffen hat wie früher behauptet; die Volksentscheide, die von den Republikgegnern zur Propaganda genutzt worden seien; das Beibehalten der alten Beamten, Richter und Militärs; Brünings Sparpolitik; der mangelnde Widerstandswille etwa bei der Entmachtung der preußischen Landesregierung 1932 („Preußenschlag“). Alle diese Punkte wurden gründlich und kontrovers in der Geschichtswissenschaft diskutiert. Keiner von ihnen hat zu einem breiten Konsens geführt oder gar die Trophäe davongetragen, den Untergang endlich abschließend zu erklären.
Nicht zuletzt die Politiker der Weimarer Republik galten als Schuldige, denen man jeden noch so kleinen Fehler nachzuweisen suchte. In der jungen Bundesrepublik wirkte eine Karriere vor 1933 beinahe wie ein Makel. Kein einziger Reichsminister ist je Bundesminister geworden. Es dauerte bis 2003, dass Bernd Braun von der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte anlässlich einer vielbeachteten Ausstellung eine Lanze für die Weimarer Reichskanzler brach und hervorhob, wie sie in schwierigen Zeiten kräftezehrende Aufgaben übernahmen, die alles andere als Ruhm versprachen. Man wird ihnen hoffentlich auch nicht den Vorwurf machen wollen, dass sie die Zukunft nicht vorhersagen konnten.
Im Februar 1919 wurde Friedrich Ebert Reichspräsident, Philipp Scheidemann Regierungschef. Der spätere zweimalige Reichskanzler Hermann Müller bekleidete bald darauf den Vorsitz der SPD. Ein Schwergewicht im Kabinett war Matthias Erzberger vom Zentrum, der Vater der Reichsfinanzreform. Hugo Preuß, der liberale Innenminister, gilt als Vater der Reichsverfassung. Außenminister war der parteilose Diplomat Ulrich von Brockdorff-Rantzau. In der Opposition saß der Unabhängige Sozialdemokrat Hugo Haase, einst Kollege Eberts im SPD-Vorsitz und dann im Rat der Volksbeauftragten. Sein Parteifreund Kurt Eisner war Ministerpräsident im zweitgrößten Gliedstaat, Bayern. Die gemäßigte Rechte wurde von Gustav Stresemann vertreten. Keiner dieser Männer wurde 60 Jahre alt, keiner erlebte Hitlers Machtergreifung.
Was haben wir wirklich gelernt?
Die Weimarer Republik überlebte 14 Jahre lang zahlreiche Krisen, auch dank der Verfassung und ihrer Handhabung, selbst nachdem die Republikgegner 1932 die absolute Mehrheit im Parlament errungen hatten. Sie endete erst durch den zusätzlichen Verrat des Reichspräsidenten Hindenburg, der Hitlers Diktatur unterstützte. Wohl kaum eine Verfassung hätte dies verhindern können, und man hat in anderen Ländern gesehen, wie wenig Bedeutung die Verfassung in solch einer Situation hat. Sie wird von den neuen Machthabern nach Belieben interpretiert – oder schlichtweg ignoriert. Nicht anders hat es Friedrich Ebert am 9. November 1918 mit der Bismarckschen Reichsverfassung gemacht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Weimarer Verfassung wieder eine Funktion: Als Sündenbock diente sie der Entlastungsstrategie großer Teile des Volkes. Wenn aber die „schlechte“ Reichsverfassung schuld an der nationalsozialistischen Herrschaft war, dann musste man sich einfach ein „gutes“ Grundgesetz ausdenken und war fortan vor einer erneuten Diktatur gefeit. Ein beruhigendes Gefühl.
Was aber, wenn die Demokratie in Deutschland wieder in existenzbedrohende Krisen geraten sollte? Der kommende Diktator wird uns nicht den Gefallen tun, seine Partei „NSDAP“ zu nennen, damit wir sie leicht erkennen können. Er wird sich auch nicht dem Bundespräsidenten anbiedern, der schließlich nicht entscheidet, wer Bundeskanzler wird. Sollte seine Partei 51 Prozent der Bundestagsmandate erhalten, so gäbe es kein starkes Staatsoberhaupt, das seiner Kanzlerschaft noch etwas entgegen setzen könnte.
Die ereignisreiche Geschichte der Weimarer Republik hat unzweifelhaft ihren Wert als Studienobjekt. Ihr Gebrauch als Negativbeispiel mag oft auch einen willkommenen politischen Wert gehabt haben. Sie liefert aber nur eine Grundlage für historisches Lernen allgemein, keine einfachen Lehren und Patentrezepte. Hundert Jahre nach dem Kaisersturz bleibt die Vergangenheit ebenso offen wie die Zukunft, offen für immer neue Versuche, unsere Wissensbasis zu erweitern und Fakten anders zu interpretieren.