Die Versuche, geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Disziplinen miteinander nicht nur ins Gespräch zu bringen, sondern sogar zur Zusammenarbeit zu ermuntern, sind nicht neu. Sie sind Teil der modernen Wissenschaftsgeschichte. Standen sich beide Wissenschaftssysteme lange eher konkurrierend gegenüber, so sind heute in Zeiten der Interdisziplinarität solche Kontakte erwünscht - sofern sie denn erkenntnistheoretisch und methodologisch sinnvoll erscheinen. Zuletzt sind es vor allem die Genetik und die Neurowissenschaften, die insbesondere mit der Geschichtswissenschaft in Verbindung gebracht werden. Kann beispielsweise die Neurowissenschaft dabei helfen, die Vergangenheit besser zu begreifen? Ist neurologisches Wissen über das menschliche Gehirn von Nutzen, um zu erklären, wie Gedächtnis und Erinnerungen funktionieren, auf die die Historie wesentlich als Quellen ihrer Erkenntnis angewiesen ist? Der Historiker Prof. Dr. Dieter Langewiesche hat sich gemeinsam mit dem Neurowissenschaftler Prof. Dr. Niels Birbaumer in einem Essay dieser Fragen angenommen. Wir haben ihn um ein Interview gebeten.
"Nichts ist so anregend wie das Gespräch über Grenzen hinweg´"
L.I.S.A.: Herr Professor Langewiesche, gemeinsam mit dem Neurowissenschaftler Niels Birbaumer haben Sie jüngst einen Essayband mit dem Titel „Neurohistorie. Ein neuer Wissenschaftszweig?“ veröffentlicht. Bevor wir auf das Thema im Einzelnen eingehen, was hat Sie bewogen, sich der Frage nach den Möglichkeiten einer methodischen Kooperation zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer geisteswissenschaftlichen Disziplin anzunehmen? Warum Neurowissenschaft und Geschichtswissenschaft?
Prof. Langewiesche: Die Kooperation ist in dem Tübinger Sonderforschungsbereich (SFB) Kriegserfahrungen (1999-2008) entstanden. Es ging u.a. um Opfer und Täter. Deshalb habe ich damals nach Gesprächspartnern in der Psychologie gesucht und den Neuropsychologen Niels Birbaumer gefunden. Er wird nichts dagegen haben, wenn ich ihn einen habituellen Grenzgänger nenne: offen für Fragen, die Geistes- und Sozialwissenschaftler stellen und vor allem – das ist zentral für unser Experiment einer (leider noch) ungewöhnlichen Partnerschaft – bereit zu wechselseitigem Lernen. Gerade in den Neurowissenschaften findet man ja auch die gegenteilige Haltung. Wir sagen den Philosophen oder den Strafrechtlern oder Historikern wie sie ihren Blick auf den Menschen ändern müssen. Da geht es dann nicht um interdisziplinäre Grenzgänge mit offenem Ausgang, sondern um Grenzüberschreitungen mit dem Ziel, fachfremdes Gebiet mit den eigenen Methoden und Theorien zu besetzen. Glücklicherweise ist das eine Minderheitsposition.
Ein kooperationsoffener Neuropsychologe wie Niels Birbaumer ist für mich als Historiker ein idealer Gesprächspartner. Wir fragen beide, wie Menschen wahrnehmen und erinnern, wie diese Wahrnehmungen und Erinnerungen sich verändern und wie aus diesen komplexen Vorgängen Handlungen entstehen. Dass die Neurowissenschaft diese Vorgänge im menschlichen Gehirn aufsucht, bietet der Geschichtswissenschaft Zugang zu einem Bereich, der ihr mit ihren Methoden verschlossen ist. Auch die Neurowissenschaft erweitert ihren Blick, wenn sie versucht, ihren vertrauten Ort, das Labor, zu verlassen, um Menschen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld oder gar in der Geschichte aufzusuchen. Dafür sind die neurowissenschaftlichen Methoden nicht geschaffen. Insofern stehen beide Seiten vor einer Herausforderung, wenn sie das Gespräch miteinander wagen. Das hat uns beide gereizt, und reizt es weiterhin. Nichts ist so anregend wie das Gespräch über Grenzen hinweg.