Die Debatte um die aktuellen Fluchtbewegungen wird zunehmend unübersichtlich: Tag für Tag verändert sich die Sachlage, eine politische Ad-hoc-Entscheidungen folgt der nächsten, unscharfe Begrifflichkeiten in der medialen Berichterstattung tragen ihren Teil dazu bei. Die sich überschlagende Aktualität ist zur Referenz ihrer selbst geworden. Was zu fehlen scheint, ist ein Moment des Innehaltens, des Nachdenkens, der Einordnung der gegenwärtigen Migration auch in ihrer historischen Dimension. Was sind die Ursachen für Fluchtbewegungen dieses Ausmaßes? Welcher Diskurs bestimmt seit wann die Debatte um Zuwanderung? Welche Begrifflichkeit ist die angemessene? Wir haben der Migrationsforscherin Dr. Manuela Bojadžijev vom Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität in Berlin und Mitglied des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) unsere Fragen gestellt.
"Diskursanalytisch gesprochen handelt es sich um Kollektivsymbole"
L.I.S.A.: Frau Dr. Bojadžijev, Sie forschen zu Migration und Rassismus. Zurzeit erleben wir eine – ja, was eigentlich? Flüchtlingsflut, -welle, -ströme, -problematik, -bewegung? Oder gar eine Völkerwanderung?
Dr. Bojadžijev: Schön, dass Sie danach fragen. Im Kontext der öffentlichen, manchmal auch akademischen, Diskussionen über Migration fehlt es oft an Sprachsensibilität. Begriffe, die mit Naturgewalt assoziiert werden – Sie nennen „Flut“, „Welle“, „Ströme“ – erfahren da eine besondere Konjunktur. Diskursanalytisch gesprochen handelt es sich um Kollektivsymbole, die sagen möchten, dass hier etwas mit Macht unerwartet und unweigerlich über uns hereinbricht, anlandet und Altes womöglich wegträgt. Begriffe und Bilder wie „Überflutung“ und „das Boot ist voll“ liegen nicht weit. Sie evozieren ein Bedrohungsgefühl und signalisieren, dass gehandelt werden muss. Die einzigen dann schlüssigen Möglichkeiten, die dabei diskursiv aufgerufen werden, bestehen im Bau von Dämmen bzw. in der Kanalisierung dieser „Ströme“. Sie sehen hier wie bereits sprachlich anklingt, was seit Jahren politisch als die einzigen zwei „Lösungen“ gehandelt wird: Die Abschottung gegenüber Migrationsbewegungen über rechtliche Mittel in Kombination mit einer militärischen Grenzabwehrlogistik sowie die – weitaus weniger erfolgreichen – Forderungen nach einem Einwanderungsgesetz. Wir alle kennen die passenden Bilder. Eine Ikonografie der Migration würde das herrlich zeigen können und uns herausfordern, neu über die Begriffe und Bilder nachzudenken.
Wir stehen also, um einen weiteren von ihnen angeregten Begriff aufzunehmen, vor einer Problematik, gar einer Krise, die hausgemacht ist. Ich würde aber sagen, dass es sich nicht um eine Krise der Migration, sondern eine Krise der Migrationspolitik handelt. Die nun auftretenden vielschichtigen infrastrukturellen und logistischen Schwierigkeiten sind Ergebnis einer Vogelstraußpolitik. Als Migrationsforscherin wundert man sich natürlich. Denn nicht nur zeichnete sich die jetzige Situation schon seit Monaten ab. Mehr noch. Würde Migrationspolitik auf internationalem Börsenparkett notiert sein, hätte vermutlich schon seit Jahren nichts mehr für diese Aktie gesprochen. Vielleicht lohnt sich der Vergleich wirklich, insofern als die seit den 1970er Jahren in ganz Nordwesteuropa einsetzende Abschottungspolitik diskursive und materielle Evidenzen und damit eine ihr eigene Plausibilität produziert hat. Die Bewegungen der Migration hat sie nicht aufhalten können. Und Insidern war das durchaus bekannt. Die finanziellen und menschlichen Kosten dafür aber waren und sind enorm.
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Kommentar
Können Sie begründen, warum Sie die unter dem sicherlich provokativen Begriff eines „Clash of Civilizations“ (was im Übrigen im Deutschen mit „Kampf der Kulturen“ nur unzureichend übersetzt ist) gebündelten Phänomene für „arg verstaubt“ halten und warum Sie den globalen Ansatz von S. Huntington auf „zivilisatorische Unterschiede zwischen Christen und Muslimen“ einengen? Außerdem interessiert mich, warum Sie das Modell des „Clash of Civilizations“ als „self-fulfilling prophecy“ charakterisieren, wo es doch tatsächlich niemals so angelegt gewesen ist?
Da Sie das Modell offensichtlich ablehnen, würde ich zudem gerne wissen, welche andere und vor allem auf Präzision bedachte Kategorisierung der globalen Konflikte Sie alternativ vorschlagen und zu welchem Ergebnis bzw. anderen Erkenntnissen diese Kategorisierung führt? Ich frage das unter anderem deshalb, weil jüngst ein anderer mit dem Konzept von Huntington untrennbar verbundener Begriff, nämlich derjenige der Bruchlinie bzw. des Bruchlinienkonflikts, von Seiten der historischen Wissenschaften aufgegriffen worden ist, um Forderungen nach einer deutsch-ukrainischen Historikerkommission Nachdruck zu verleihen (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/deutsch-ukrainische-historikerkommission-13611147.html).
Eine aus meiner Sicht etwas unbefriedigende Begründung für Ihre Ablehnung eines „Clash of Civilizations“ haben Sie damit gegeben, dass Sie von einer „anderen Wahrnehmung“ sprechen, die einerseits der so genannte Arabische Frühling, die Fluchtbewegungen durch den IS und der Türkei-Kurden-Konflikt erlaubt haben, andererseits aber die Feststellung, der Islam gehöre zu Deutschland, und das Bekenntnis deutscher Muslime zu Deutschland. Können Sie das einmal präzisieren und zwar vor dem Hintergrund, wo sie genau die Veränderungen messen können, die ein Austragen von kulturellen, religiösen, ethnischen und ideologischen Fremd-Konflikten in Deutschland unwahrscheinlich machen? Um einen aktuellen Aufhänger dafür zu nehmen: Wie ordnen Sie die derzeitig eskalierenden Konflikte zwischen türkisch- und kurdischstämmigen Deutschen, etwa in Berlin, Essen, Hannover, Kornwestheim (PKK-Brandanschlag auf eine ATIB-Moschee) oder Hamburg, ein, die ja nun auch in einem engen Zusammenhang mit der Syrien-Problematik stehen und an denen (noch) keine Flüchtlinge beteiligt sind?
Zum selben Zusammenhang noch: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann stellen Sie folgende Sachverhalte in den Vordergrund, die dazu beitragen werden, dass es keinen „Clash of Civilizations“ auf deutschen Straßen gibt: Einerseits sei die Heterogenität der zu uns kommenden Menschen gewissermaßen ein Konstrukt, und Sie setzen voraus, das die derzeitige Euphorie dieser neu ankommenden Menschen für ein friedliches Zusammenleben ausreiche. Dem stellen Sie auf der anderen Seite als weitere positiv beeinflussende Faktoren das aufgeschlossene Verhalten der schon in Deutschland länger ansässigen Bevölkerung gegenüber. Das ist sicherlich vom Grundsatz her richtig, aber: Glauben Sie, dass Euphorie und gute Behandlung ausreichen, damit jahrzehntelange, teils blutige Konflikte zwischen Bevölkerungs- bzw. Religionsgruppen wie etwa Türken, Kurden, Yeziden, Armeniern, Sunniten, Schiiten und Aleviten usw. von genau diesen Gruppen nach ihrer Ankunft in Deutschland nur wegen neuer Rahmenbedingungen einfach so beigelegt werden?
Vielen Dank schon einmal für Ihre Antworten und beste Grüße!