Europa galt über Jahrhunderte hinweg als das Zentrum der Welt. Von hier aus kolonisierten Europäer nahezu den gesamtem Erdball und schwangen sich zu den Herren über alle anderen Völker auf. Spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkriegs gilt die europäische Vorherrschaft als gebrochen - andere Staaten gewannen an Macht und Geltung, insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika, später die Sowjetunion beziehungsweise Russland, heute zusätzlich noch China, Indien und andere regionale Vormächte. Aus einer überwiegend monopolaren und eurozentrischen Hegemonie entstand bis heute eine multipolare Weltordnung. Und Europa? Europa ist mehr denn je ein Kontinent der Kulturen. So sehr seine Weltmachtstellung abgenommen hat, so sehr wird es nach wie vor als Modell für Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Integration in Betracht gezogen. Dieser widersprüchliche Befund ist der Ausgangspunkt des neuen kulturwissenschaftlichen Zentrums "Kulturen Europas in einer multipolaren Weltordnung" an der Universität Konstanz. Wir haben die Leiter des Zentrums, Jun.-Prof. Dr. Nicolas Detering, Prof. Dr. Albrecht Koschorke und Prof. Dr. Kirsten Mahlke, um ein Interview gebeten.
"Aufgabe für die Kulturwissenschaften, neue Beschreibungsmodelle Europas zu entwickeln"
L.I.S.A.: Die Universität Konstanz hat ein neues Forschungszentrum eingerichtet, das Sie gemeinsam leiten. Der Titel des Forschungszentrums lautet „Kulturen Europas in einer multipolaren Weltordnung“. Wie kam es zur Gründung dieses Zentrums? Welche Gegenwartsbeobachtungen sowie inhaltliche bzw. thematische Vorüberlegungen gingen dem voraus?
Detering/Koschorke/Mahlke: An der Universität Konstanz besteht bereits seit zehn Jahren ein erfolgreicher Masterstudiengang ‚Kulturelle Grundlagen Europas‘, der sich von vielen European Studies-Programmen durch seine kulturwissenschaftliche Ausrichtung unterscheidet. Welche Erzählungen, welche Bildwelten und historischen Referenzen bestimmen den Europadiskurs und inwiefern wirken kulturelle Bewegungen an der politischen Konstruktion Europas mit? Das ist im Grunde auch die Ausgangsfrage unseres Forschungszentrums, das allerdings stärker noch nach der Rolle der Globalisierung fragen soll. Bei der Einrichtung sind wir von der widersprüchlichen Beobachtung ausgegangen, dass der europäische Kontinent seine globale Dominanz in politischer, militärischer, wohl auch epistemologischer Hinsicht verwirkt hat, während die europäische Integration doch zugleich als weltweit bewundertes Modell einer friedlichen Einigung von einstmals verfeindeten Nationen gilt, auch aufgrund ihrer oft zweifelnden, oft streitbaren Art der Selbstverständigung. Wir leiten aus diesem Befund eine Aufgabe für die Kulturwissenschaften ab, neue Beschreibungsmodelle Europas zu entwickeln. Die postkoloniale Kritik am Eurozentrismus und Imperialismus möchten wir in Rechnung stellen, ohne aber die Attraktivität der kulturellen Bestände Europas aus den Augen zu verlieren. Das geht freilich nicht im Konstanzer Alleingang. Wir haben das Glück, dass die K.H.-Eberle-Stiftung es uns mit einem namhaften Preisgeld ermöglicht, internationale Fellows zu Gastaufenthalten an den Bodensee zu laden, mit denen gemeinsam wir über den Ort Europas in einer globalisierten Welt nachdenken können.