Die Antarktis war lange Zeit die letzte unerforschte und unkartographierte Region der Erde. Um 1900 erwachte in Europa ein gesteigertes Interesse daran, dieses Wissensdefizit aufzuholen und Explorationen in die rauhen Gefilde des Südpols zu unternehmen. Bis heute ist die Erkundung im öffentlichen Gedächtnis vom "Wettlauf zum Südpol" zwischen dem Norweger Roald Amundsen und dem Briten Robert Falcon Scott geprägt. Neben der historischen Verkürzung auf heldenhafte Forscherpersönlichkeiten stellt diese Erzählung auch eine vermeintlich starke nationale Rivalität in den Mittelpunkt. Dass hinter den Südpolexplorationen stattdessen ein breites Geflecht aus transnationalen Wissenskulturen und Netzwerken verschiedenster Akteure bestand, zeigt Dr. Pascal Schillings in seiner Dissertation, die jüngst unter dem Titel Der letzte weiße Flecken. Europäische Antarktisreisen um 1900 veröffentlicht wurde. Hierin widmet er sich den damaligen Explorationskulturen aus der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie. Wir haben ihn zu seinen Ergebnissen befragt.
"Es ging nicht allein um heroisch-athletischen Antarktisdurchquerungen"
L.I.S.A.: Herr Dr. Schillings, Sie haben sich in Ihrer Dissertation mit den britischen und deutschen Antarktisexpeditionen um 1900 beschäftigt. Verbunden ist die Eroberung des Südpols in der öffentlichen Erinnerung vor allem mit dem Wettlauf zwischen dem Briten Robert Falcon Scott und dem Norweger Roald Amundsen. Warum wurde der Südpol in dieser Zeit so wichtig? Welchen Zugang haben Sie zu dem Thema gewählt?
Schillings: Tatsächlich bestimmt heute das sogenannte Rennen um den Südpol die öffentliche Wahrnehmung von Südpolreisen um 1900 sehr stark – man denkt da an Männer, die unter größten Entbehrungen und zur Ehre ihrer Nation die Antarktis durchquerten. Während der Arbeit an meinem Projekt bin ich an endlos vielen Stellen auf Menschen getroffen, deren erste Assoziation mit der Antarktis um 1900 der Wettlauf um den Pol war – sei es, weil sie als Kinder Abenteuerkassetten dazu gehört haben, sei es, weil ihr Erdkundeunterricht auf der weiterführenden Schule damit einsetzte. Auf irgendeine Weise scheint diesem Rennen, das für die britische Expedition so tragisch endete, eine nicht nachlassende Faszination, vielleicht etwas zeitlos Tragisches anzuhaften. Wenn man sich allerdings ein wenig genauer umschaut, stellt man schnell fest, dass der sogenannte Wettkampf zwischen Amundsen und Scott eigentlich nur den Abschluss für eine bestimmte Art der Exploration in den Südpolarregionen bildete, die in den 1890er Jahren einsetzte und die sich zwischenzeitlich zu einer regelrechten Antarktiskonjunktur ausweitete: Zwischen 1897 und 1916 starteten 15 Expeditionen aus neun Ländern in Richtung Südpol.
Mein Ansatz bestand nun eben genau darin, nicht die beiden weitbekannten Expeditionen in den Blick zu nehmen, sondern zwei Expeditionen am Beginn dieser Phase anzuschauen – die deutsche Expedition auf der Gauss und die britische an Bord der Discovery – und den Blick darauf zu lenken, dass es bei der Antarktiskonjunktur eben nicht allein um heroisch-athletische Antarktisdurchquerungen ging, sondern um ein komplexes Gefüge unterschiedlicher Wissensbereiche, die alle auf ihre Art und Weise an der Tilgung des letzten weißen Fleckens mitwirkten.
Schließlich, warum der Südpol genau dann so wichtig wurde – und warum nicht früher: Dafür gibt es, glaube ich, eine Reihe von Gründen. Einmal lassen sich verteilt über das 19. Jahrhundert Konjunkturen anderer Weltregionen beobachten: Australien, die Arktis mit ihren Nordost- und Nordwestpassagen, Afrika – alle diese Orte stellten in der Wahrnehmung der Zeitgenossen weiße Flecken auf der Landkarte dar, mit denen sich – im Gegensatz zur Antarktis – sehr konkrete koloniale bzw. imperiale Interessen verbanden. Zudem bewegten sich die Akteure, die sich in Geographie und Wissenschaft für die Südpolarregionen begeisterten, lange eher an den Rändern ihrer Fachgemeinschaften. Als diese dann gegen Ende des Jahrhunderts in Entscheidungspositionen vorrückten, zum Beispiel als Präsidenten von Geographischen Gesellschaften oder Direktoren von Reichsinstituten, brachten sie die Antarktis mit Nachdruck auf die Agenda. Dazu kam, dass sich am Ende des 19. Jahrhunderts Walfänger für die Antarktis zu interessieren begannen, nachdem die Wal- und Robbenbestände im Norden bereits drastisch dezimiert waren. Deren Testexpeditionen lieferten einen ersten Zugang zum hohen Süden. Schließlich spielten nationale und imperiale Beweggründe eine Rolle und in dem Moment, in dem an verschiedenen Stellen in Europa Antarktisprojekte in Angriff genommen wurden, entstand ein wechselseitiger Erfolgsdruck, mit dem sich die Unternehmungen in gewisser Weise gegenseitig zur Realisierung verhalfen.