"Wir sind das Volk" – dies skandieren die Menschen bei den montäglichen Demonstrationen von PEGIDA in direkter Anlehnung an die Protestbewegung in der ehemaligen DDR. Der Begriff "Volk" scheint in jüngster Zeit wieder an Bedeutung zu gewinnen, Parteien wie die AfD wollen das Konzept des "Völkischen" seiner negativen Konnotationen entledigen. Doch bereits vor dem Nationalsozialismus waren das Wort und damit verbundene Volkskonzepte stark umkämpft. In der Weimarer Republik beriefen sich sowohl demokratische als auch antidemokratische Lager auf unterschiedliche Vorstellungen "des Volks". Dr. Jörn Retterath hat sich in seiner jüngst erschienenen Dissertation mit dem Volksbegriff in der Umbruchsphase zwischen dem Ende des Kaiserreichs und der Gründung der Weimarer Republik beschäftigt. Er argumentiert, dass die Aushöhlung der Demokratie maßgeblich durch eine ausbleibende Durchsetzung pluralistischer Volksbegriffe befördert wurde. Wir haben ihn zu diesem Thema und der historischen Dimension heutiger Debatten befragt.
"Zu dieser Zeit war 'Volk' eine omnipräsente und sehr ambivalente Vokabel"
L.I.S.A.: Herr Dr. Retterath, der Begriff „Volk“ ist aufgrund seiner historischen Verknüpfung mit dem Nationalsozialismus ein belasteter und in der Politik eher selten verwendeter Begriff. Eine wichtige Bedeutung hatte der Begriff auch vor der NS-Zeit in der Umbruchphase vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, wie Sie in Ihrer Dissertation herausarbeiten. Warum wird er zu diesem Zeitpunkt wichtig?
Dr. Retterath: „Volk“ war einer der am häufigsten gebrauchten Begriffe in der politischen Sprache des ausgehenden Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Er wurde von allen Lagern verwendet. Dabei unterschieden sich aber seine Bedeutung und die mit ihm verknüpften Vorstellungen, Werte und Weltbilder erheblich. So konnte er im Ersten Weltkrieg sowohl von konservativen Kräften zum Appellieren an die Einheit des „Burgfriedens“ als auch von Sozialdemokraten und Linksliberalen für die Forderung nach demokratischen Reformen beschworen werden.
Während der Revolution 1918/19 hingegen verlangten die Linkssozialisten unter Bezugnahme auf „das Volk“ eine Herrschaft der zuvor benachteiligten Schichten. Unter „Volk“ verstanden sie damit in erster Linie die „plebs“. Gleichzeitig gebrauchten viele Sprecher aus dem politischen Spektrum der Mitte den Begriff im Sinne eines pluralistischen „demos“, um die baldige Abhaltung von Wahlen einzufordern. Daneben wurde der Begriff aber auch in einem ethnischen Sinne verwendet und mit mystisch-holistischen Vorstellungen – wie der von einem „Volkswesen“ oder einem „Volkswillen“ – verknüpft.
Nach der Abdankung der Monarchen wurde „das Volk“ zur neuen Legitimationsgrundlage. „Volk“ war also eine omnipräsente und sehr ambivalente Vokabel, die durch die Republikausrufung an Bedeutung gewann. Angesichts der Tatsache, dass im neuen, demokratischen Staat „das Volk“ der Souverän war, stellte sich die Frage: „Was ist das Volk?“ – darüber wurde zeitgenössisch jedoch kaum diskutiert. Die Unbestimmtheit des Volksbegriffs etwa in der Weimarer Reichsverfassung ermöglichte es den unterschiedlichsten politischen Kräften, die Konstitution nach ihrem Verständnis auszulegen – und im Extremfall unter Bezugnahme auf den Volksbegriff in der Verfassung, die Demokratie zu bekämpfen.