Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 wurde von den deutschen "Dichtern und Denkern" euphorisch begrüßt. Wie kam es zu dieser Kriegsbegeisterung und in welchem kulturellen und politischen Klima lassen sich die bildungsbürgerlichen "Vordenker" des Krieges einordnen? Der Historiker Dr. Steffen Bruendel beschäftigt sich in seinem jüngst erschienen Buch mit dem Verhältnis der geistigen und künsterlischen Elite zur militärischen Mobilmachung und Kriegspropaganda. Wir habe ihn zu diesem Thema befragt.
"Auf der Suche nach einem höheren Sinn"
L.I.S.A.: Herr Dr. Bruendel, Sie haben ein Buch zum Ersten Weltkrieg geschrieben, das den Titel „Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg“ trägt. Wenn Sie sich heute aussuchen könnten je einen Wissenschaftler, einen Schriftsteller und einen Künstler der damaligen Zeit persönlich kennenzulernen, welche würden Sie aus welchen Gründen wählen? Wer fasziniert Sie besonders?
Dr. Bruendel: Oh, das ist keine leichte Frage. Hugo Preuß, Max Weber, Georg Simmel, Ernst Troeltsch – all das sind außerordentlich faszinierende Vertreter der Wissenschaft, deren Werke auch heute noch zu Rate gezogen werden. Ich glaube, der Theologe Ernst Troeltsch wäre ein besonders interessanter Gesprächspartner, denn er gehörte zu den prominentesten akademischen Verfechtern der so genannten „Ideen von 1914“. Unter diesem Schlagwort wurde von bedeutenden Intellektuellen zusammengefasst, was die politische – und das hieß auch: die verfassungsrechtliche – Zukunft Deutschlands nach dem Krieg ausmachen sollte. In Abgrenzung sowohl von den westlichen Demokratien als auch von der russischen Autokratie suchte man nach einer eigenen, spezifisch „deutschen“ Staatsform. Diese erblickte man, kurz gesagt, in einem „Kriegs-“ oder „Staatssozialismus“, worunter man eine Art planwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit autoritären, aber auch partizipatorischen Elementen verstand.
Im Mai 1917 hat Troeltsch im Rahmen einer Vortragsreihe über die „deutsche Freiheit“ einen Vortrag über den „Ansturm der westlichen Demokratie“ gehalten. Er lehnte das politische System der kurz zuvor in den Krieg eingetretenen USA ab und lobte die Besonderheiten der politischen Entwicklung Deutschlands, insbesondere die Sozialgesetzgebung. Man darf das nicht vorschnell als Propaganda abtun. Viele Aspekte, die damals am amerikanischen Staats- und Gesellschaftsmodell kritisiert wurden, wie zum Beispiel die Parteienfinanzierung oder der politische Einfluss der Hochfinanz, werden ja heute auch noch beanstandet, wenn auch mit anderer Wortwahl. Staatstheoretisch sind eben nicht nur Demokratien legitim. Darüber würde ich also gerne mal mit Herrn Professor Troeltsch sprechen: über sein Demokratieverständnis, seinen Glauben an einen positiven deutschen „Sonderweg“ und augenzwinkernd auch über die Frage, wie er seine Rede heute, 100 Jahre später, halten würde.
Auch mit Blick auf die Schriftsteller fällt die Antwort nicht leicht. Ich würde vielleicht nicht unbedingt als Moderator im sogenannten Bruderkrieg zwischen Thomas und Heinrich Mann agieren wollen, könnte mich aber auch nicht zwischen Ihnen entscheiden. Also keiner von beiden. Ernst Jünger, diesem beängstigend faszinierenden Ästheten, könnte ich zahllose Fragen stellen, aber er wäre vielleicht gar keine so originelle Wahl. Ich entscheide mich deshalb für den heute weitgehend vergessenen Erich Mühsam. Dessen Gedichte habe ich bei der Arbeit an meinem Buch in einer Weise schätzen gelernt, wie ich es kaum geahnt hätte. Sein klarer Blick auf die innen- und außenpolitischen Entwicklungen im Krieg, sein Sarkasmus, der dem von Karl Kraus in nichts nachsteht… Mich würde sehr interessieren, was genau ihn zu seinen sprachlich wie inhaltlich beeindruckenden Gedichten inspirierte, die er zensurbedingt ja erst nach Kriegsende veröffentlichen konnte.
Nun zu den Künstlern. Viele der besten sind ja gefallen. Sehr viele hatten sich freiwillig gemeldet. Auch wenn ich mich als Historiker gerade mit diesem Phänomen befasst habe, kann die Frage, warum sie das taten, nicht vollständig beantwortet werden. Ich würde deshalb Käthe Kollwitz wählen, die 1914 ihrem jüngsten Sohn Peter dabei geholfen hatte, die schriftliche Einwilligung des Vaters zur freiwilligen Gestellung zu bekommen. Die Mutter verhilft ihrem Sohn dazu, Soldat zu werden! Und dann fällt dieser Sohn schon im Oktober 1914. Die ganzen Kriegsjahre hindurch ist sie auf der Suche nach einem höheren Sinn, den dieser Opfertod „irgendwie“ gehabt haben müsse… Dies ist aus unserer heutigen Perspektive kaum noch nachvollziehbar. Und gerade deshalb würde ich gerne mit Käthe Kollwitz einmal im Tiergarten spazieren, um mir von ihr erzählen zu lassen, was sie bewog, was sie fühlte und welchen Rat sie der heutigen Generation geben würde.
Letztendlich aber bin ich froh, nicht in die Versuchung des Gesprächs mit dem einen oder der anderen zu geraten. Und zwar nicht, weil ich – wie Marcel Reich-Ranicki es einmal mit Blick auf Thomas Mann getan hat – sagen würde, „ich glaube, ich wäre enttäuscht“, sondern weil das Spannende für den Historiker ja gerade in der Distanz zum Forschungsgegenstand liegt, und zwar zeitlich, räumlich und intellektuell.